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OFFENER BRIEF |  »Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk fordert Hilfe für ME/CFS-Kranke«

»Ilko-Sascha Kowalczuk fordert Hilfe für ME/CFS-Kranke« | Artikel von Torsten Harmsen | Berliner Zeitung | 12.05.2020

Am 12.05.2020 – dem internationalen ME/CFS-Tag – erschien in der Berliner Zeitung ein Artikel über den Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der in einem offenen Brief die Politik dazu auffordert, sich für 250.000 Menschen, die in Deutschland von der Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrome (ME/CFS) betroffen sind, einzusetzen und fordert verstärkte Forschungsbemühungen. Der Familienvater ist selbst seit 2014 an ME/CFS erkrankt. Hier geht es zum Pressebericht von Torsten Harmsen. 

Ilko-Sascha Kowalczuk hat uns seinen offenen Brief, der sich an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und an die Mitglieder des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages richtet, zur Verfügung gestellt. Wir möchten diesen mit euch teilen, so dass ihr diesen wiederum weiter verbreiten/versenden könnt. Eine englische Version des offenen Briefs befindet sich hier. 

Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn,

sehr geehrte Damen und Herren des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages,

 

meine Name ist Ilko-Sascha Kowalczuk, ich lebe in Berlin und bin Historiker. In dieser Funktion war ich als Sachverständiger Mitglied einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages (1995-1998) und bin aktuell vom Bundeskabinett in die Kommission „30 Jahre Einheit“ berufen worden. Ohne weiter auf meine Biographie und meine wissenschaftlichen wie gesellschaftspolitischen Aktivitäten einzugehen, möchte ich damit nur andeuten, dass ich seit Jahrzehnten ein sehr engagierter und weit über das übliche Maß hinaus - so wie Sie alle - arbeitender Mensch bin.

 

Seit April 2014 bin ich in diesem Wirken ganz erheblich eingeschränkt, weil ich an CFS erkrankte. Das Krankheitsbild bei mir verläuft angesichts dessen, was ich über andere Verläufe lesen und hören muss, offenbar noch einigermaßen erträglich: ich habe seit April 2014 dauerhafte Ganzkörperschmerzen in allen Muskelpartien, kann daher nur sehr schlecht schlafen, bin vor allem niemals ausgeschlafen/ausgeruht/entspannt, kleinere körperliche Anstrengungen verursachen tagelange Verschlimmerungen meiner Situation.

Zuweilen liege ich wochen- oder gar monatelang flach, in etwas besseren Zeiten komme ich mit ein oder zwei längeren Ruheliegephasen am Tag aus. Ich bin dabei noch privilegiert, weil ich, wie gesagt, noch verhältnismäßig gut meinen Alltag im Vergleich zu vielen anderen  Betroffenen bewältigt bekomme. Hinzu kommt, dass mich mein familiäres und soziales Umfeld ganz erheblich unterstützt, ein weiteres Privileg, das längst nicht alle Betroffenen haben. So kann ich selbst einen Teil meiner beruflichen und sonstigen Aufgaben unter großen Kraftaufwendungen und erheblichen Einschränkungen erledigen.

 

Das Problem an dieser unerforschten Krankheit beginnt bereits bei der Diagnose, die es praktisch nicht wirklich gibt, da fast jedes Krankheitsbild anders aussieht und zugleich eine klare Diagnose trotz des Umstandes, dass die WHO die Krankheit vor über 50 Jahren als eine Schwererkrankung anerkannt hat, nicht gibt. In Deutschland sind schätzungsweise eine Viertel Million Menschen aller Altersstufen erkrankt, weltweit geht man von bis zu 17 Millionen Erkrankten aus. Da es keine eindeutige Diagnose gibt und die Ursachen unklar sind, existiert auch keine anerkannte und zielführende Therapie. Das alles führt dazu, dass wohl jede an ME/CFS erkrankte Person erzählen könnte, bei wie vielen Ärzten und Ärztinnen, Alternativmediziner*innen und sonstigen Therapeut*innen sie vergeblich gewesen ist. Die meisten haben von dieser Erkrankung noch nie etwas gehört, viele behandeln einen als Simulanten oder haben Tipps wie „Ruhen Sie sich doch mal aus!“, „Schlafen Sie aus!“, „Solche Phasen kommen und gehen eben" oder „Erschöpft sind wir doch alle, oder?“ bereit. Nicht wenige wollen einen zu Psycholog*innen schicken, was irgendwann aufgrund des jahrelangen Leidensweges unausweichlich wird. (Ganz zu schweigen von der Aufnahme dieser Krankheit durch die Gesellschaft!)

 

Mir selbst ist es so ergangen, dass ich irgendwann anfing, darunter zu leiden, dass außer meiner Ehefrau und unseren vier Kindern eigentlich mir niemand ansah, wie es mir ging, wie schlecht ich mich fühle, wie krank ich bin. Die Krankheit hat keine äußeren Erscheinungsbilder - selbst das wird irgendwann zum psychischen Problem. Natürlich führt das zu Persönlichkeitsveränderungen, die nicht gerade positiv ausfallen. Der innere Zweifel nagt: Bin ich überhaupt krank? Bilde ich mir das einfach nur ein? Bin ich eine „Mimose" oder ein Hypochonder (was ja eine andere Erkrankung wäre)? Viele Betroffene bekommen zusätzliche psychische Erkrankungen, nicht wenige leiden unter Suizidgedanken, immer wieder kommt es zu Selbstmorden von CFS-Betroffenen. Auch hier gehöre ich wieder zu einer privilegierten Gruppen innerhalb der Erkrankten, weil ich auch nach sechs Jahren Krankheit überwiegend psychisch stabil bin, auch wenn es häufig den größten Teil meiner verbliebenen Restenergie auffrisst, stabil zu bleiben.

 

Ich war in diesen sechs Jahren bei vielen medizinischen Untersuchungen, habe alle möglichen Angebote ausprobiert, bin wirklich an allen denkbaren und undenkbaren Orten gewesen, um mir Hilfe zu holen - alles vergeblich bislang. Vor einiger Zeit habe ich aufgehört, Ärzt*innen aufzusuchen: jedesmal hatte ich wieder Hoffnung geschöpft und jedesmal fiel ich nach der Enttäuschung in ein großes Loch, aus dem ich mich nur mit allergrößter Anstrengung befreien konnte. Ich hörte also irgendwann einfach auf, mir meine Enttäuschungen selbst zu organisieren.

 

Ich habe großes Glück, dass ich in einem stabilen Umfeld lebe. Allein würde ich das nicht schaffen. Und dennoch weiß ich natürlich nicht, wie lange ich das noch durchhalten kann. Mich lassen meine Liebe zu meiner Familie, meine Dankbarkeit meinen Freund*innen gegenüber und meine tiefe Erfüllung in meiner wissenschaftlichen Arbeit, die mir ein echter Energiepool zum buchstäblichen Überleben ist, immer wieder Kraft gegen die täglichen 24stündigen Schmerzen und die dauerhafte Tiefenerschöpfung sammeln und meinen Geist kräftigen.

 

Ich denke täglich an die vielen Menschen in Deutschland und weltweit, die unter sozial, psychisch und/oder materiell schlimmen  und schlimmsten Bedingungen ME/CFS ertragen müssen. Den Betroffenen kann nicht geholfen werden, weil es bislang keine hinreichende Forschung über die Krankheit gibt. In den letzten zwei, drei Jahren hat die Öffentlichkeit diese Erkrankung als Schwererkrankung angefangen wahrzunehmen. Durch den Corvid19-Virus ist zudem eine Sensibilisierung erfolgt, was die Erforschung von unbekannten Krankheiten anbelangt, zumal es deutliche Hinweise gibt, dass Corona-Viren offenbar zum Ausbruch bzw. zur Verstärkung von ME/CFS beitragen.

 

Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn,

sehr geehrte Damen und Herren des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages,

 

ich möchte Sie ganz herzlich bitten, unterstützen Sie die Erforschung von ME/CFS. Stellen Sie bitte entsprechende Forschungsmittel bereit. Schreiben Sie bitte Forschungsprojekte für CFS aus analog zu den BMBF-Forschungsprojekten für die Natur- und Geisteswissenschaften.

Sofern es nötig ist, stehen ich Ihnen für Rücksprachen, Gespräche, auch für öffentliche Anhörungen zur Verfügung.

 

Entschuldigen Sie vielmals diese lange e-mail. Ich weiß, in Ihrem langen und eng gedrängten Arbeitstag sind solche langen Briefe nicht willkommen. Aber ich hoffe auf Ihr Verständnis, aber noch mehr auf Ihre tatkräftige Unterstützung des Anliegens. Meinen Brief stelle ich gleichzeitig Vereinen, Politiker*innen u.a. zur gefälligen Verwendung zur Verfügung. Außerdem informiere ich damit weitere Personen (und die vielleicht und hoffentlich weitere!), die sich vielleicht meinem Appell an Sie anschließen, in dem Sie dieses Anliegen unterstützen und diesen Brief erneut an Sie senden. Aber das ist kein Ketten- oder Rundbrief, sondern eigens von mir verfasst worden.

 

Mit freundlichen Grüßen und allen guten Wünschen, bleiben Sie gesund!

Ihr

Ilko-Sascha Kowalczuk

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Presseartikel »Ilko-Sascha Kowalczuk fordert Hilfe für ME/CFS-Kranke« | Berliner Zeitung | 12.05.2020 | Artikel von Torsten Harmsen 
Eine englische Version des offenen Briefs von Ilko-Sascha Kowalczuk ist hier abrufbar