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Von der Energieerzeugung bis zum Notstrom: Energieprozesse und metabolische Zustände bei ME/CFS verstehen

 

Der menschliche Körper verfügt über zwei Hauptwege der Energieproduktion: die aerobe und die anaerobe Energieproduktion. Beide Mechanismen sind entscheidend für alltägliche Funktionen und beeinflussen, wie gut wir auf verschiedene Anforderungen reagieren können.

 

Bei ME/CFS-Betroffenen sind diese Prozesse jedoch häufig gestört, was wesentliche Auswirkungen auf die Symptomatik hat. Die metabolischen Zustände, die bei ME/CFS beobachtet wurden, konnten bisher nur in In-vitro-Experimenten nachgewiesen werden, bei denen Zellen außerhalb des Körpers untersucht wurden. Dabei führte die Exposition gesunder Muskelzellen gegenüber ME/CFS-Serum dazu, dass diese Zellen innerhalb weniger Stunden vom normometabolischen in einen hypermetabolischen Zustand wechselten.

 

Nach etwa 24 Stunden begann in diesen Zellen der Übergang von der aeroben zur ineffizienteren anaeroben Energieproduktion, und nach 48 Stunden zeigte sich ein hypometabolischer Zustand mit stark reduzierter Energieproduktion. Diese metabolischen Wechsel könnten erklären, warum ME/CFS-Betroffene bereits bei geringer Belastung ein rasches Energiedefizit entwickeln, das zur Post-Exertionellen Malaise (PEM) und zu einem erhöhten Crash-Risiko führt.

 

Da der Stoffwechsel von Zellen im Körper (in vivo) von vielen Faktoren beeinflusst wird, sind direkte Messungen bei ME/CFS-Betroffenen technisch schwierig. Daher können wir aktuell nur vermuten, dass sich die Betroffenen je nach Schweregrad, Tagesverfassung und individuellen Faktoren in unterschiedlichen metabolischen Zuständen befinden.

     

 

 


1. Aerobe Energieproduktion

 

Gesunde Menschen

Im aeroben Zustand erzeugt der Körper Energie mithilfe von Sauerstoff, vor allem in den Mitochondrien durch die sogenannte Zellatmung. Dieser Prozess ist sehr effizient und produziert eine große Menge an ATP (Adenosintriphosphat), dem „Treibstoff“ unserer Zellen. Als Nebenprodukte entstehen dabei Kohlendioxid und Wasser, die leicht über die Atmung und den Stoffwechsel entsorgt werden können. Der Körper kann diesen Zustand über längere Zeit aufrechterhalten, was auch bei moderater Bewegung eine kontinuierliche Energieversorgung gewährleistet.

 

ME/CFS-Betroffene

Bei ME/CFS-Betroffenen ist die Fähigkeit zur aeroben Energiegewinnung deutlich eingeschränkt. Bereits geringe Anstrengungen führen schnell dazu, dass der aerobe Weg überlastet ist und der Körper auf die ineffizientere anaerobe Energieproduktion umschalten muss.

 

2. Anaerobe Energieproduktion und mitochondriale Dysfunktion

 

Gesunde Menschen

Die anaerobe Energieproduktion wird aktiviert, wenn die Anforderungen die Sauerstoffversorgung übersteigen, wie bei intensiven körperlichen Belastungen. Der Körper erzeugt dann Energie ohne Sauerstoff. Dieser Prozess ist jedoch weniger effizient, liefert weniger ATP und führt zur Bildung von Laktat und anderen Metaboliten, die sich im Körper ansammeln und das typische „Brennen“ in den Muskeln hervorrufen können. Der anaerobe Weg ist daher nur als kurzfristige Lösung gedacht und wird bei gesunden Menschen nur in Ausnahmefällen für alltägliche Aktivitäten genutzt.

 

ME/CFS-Betroffene

Studien legen nahe, dass bei ME/CFS die Mitochondrien, die für die Energieproduktion in den Zellen verantwortlich sind, oft fragmentiert und teilweise funktionsunfähig sind. Diese Störung zwingt den Körper bereits bei geringem Energiebedarf vermehrt auf den ineffizienten anaeroben Modus umzuschalten, was zu einem chronischen Energiedefizit führt. Die Folge ist eine Anhäufung von Abfallprodukten wie Laktat, die schnelle Muskelermüdung und eine Verschärfung der Post-Exertionellen Malaise (PEM) verursachen. Die ineffiziente Energieversorgung macht selbst leichte Aktivitäten zur Belastung, erhöht die Fatigue sowie das Risiko eines Crashs und beeinträchtigt zusätzlich die Immunabwehr. Forscher vermuten, dass die gestörte Zellgesundheit und mitochondriale Dysfunktion auch die Anfälligkeit für Infektionen erhöht und die Reaktivierung latenter Viren begünstigen könnte.

 

Analogie zur Fabrik

Stellen wir uns den Körper wie eine Fabrik vor:

 

Aerobe Energieproduktion: Die Fabrik läuft unter normalen Umständen mit einem hochwertigen Treibstoff und einer konstanten Sauerstoffzufuhr, die eine effiziente Verarbeitung der Rohstoffe ermöglicht. Es entstehen nur Kohlendioxid und Wasser als Abfallprodukte, die leicht entsorgt werden können. Die Maschinen laufen in diesem Zustand ruhig und sind auf eine kontinuierliche, stabile Produktion eingestellt.

 

Anaerobe Energieproduktion: Wenn der hochwertige Treibstoff knapp wird, muss die Fabrik auf minderwertigen Treibstoff umschalten, der mehr Rückstände hinterlässt. Die Maschinen müssen härter arbeiten, produzieren mehr Abfallstoffe und verschleißen schneller. Dieser Zustand ist ineffizient und lässt sich nur für kurze Zeit aufrechterhalten, bevor die Maschinen eine Pause zur Reinigung und Regeneration benötigen. ME/CFS-Betroffene sind jedoch oft gezwungen, auf diesen minderwertigen Treibstoff zurückzugreifen, was zur ständigen Überlastung und zu einem zellulären Energiedefizit führt.

 


 

3. Normometabolischer Zustand

 

Gesunde Menschen

Im normometabolischen Zustand herrscht ein Gleichgewicht zwischen Energieerzeugung und Energieverbrauch. Der Körper befindet sich in einem stabilen Zustand, in dem die Anforderungen gedeckt sind, vorwiegend durch aerobe Energieproduktion. Dieser Zustand erlaubt es dem Körper, die notwendigen Aktivitäten problemlos zu bewältigen. Die Energieversorgung bleibt stabil, und die Abfallprodukte wie Kohlendioxid und Wasser werden effizient abgebaut.

 

ME/CFS-Betroffene

Für Betroffene von ME/CFS ist dieser Zustand schwer zu halten. Schon geringe Belastungen führen oft dazu, dass die aerobe Energieproduktion überfordert ist. Dadurch ist der Körper gezwungen, häufiger auf anaerobe Prozesse umzuschalten, selbst bei alltäglichen Aktivitäten. Diese frühzeitige Nutzung des anaeroben Systems führt schnell zu einem Aufbau von Abfallprodukten wie Laktat, was die Fatigue verstärkt und zu einem Energieengpass führt. Da wir derzeit nicht direkt messen können, in welchem metabolischen Zustand sich ME/CFS-Betroffene befinden, vermuten wir, dass sie den normometabolischen Zustand nur instabil und meist nur kurzfristig erreichen.

 

Analogie zur Fabrik

Normometabolischer Zustand: In diesem Zustand arbeitet die Fabrik in einem stabilen Rhythmus, in dem die Maschinen kontinuierlich und ausgeglichen laufen. Die Sauerstoffzufuhr ist konstant, sodass die Fabrik vorwiegend den hochwertigen Treibstoff nutzen kann, um die Rohstoffe effizient zu verarbeiten. Die Abfallprodukte sind gering und leicht zu entsorgen, was eine durchgängige, zuverlässige Produktion ermöglicht.

 

ME/CFS-Betroffene in diesem Zustand: Die Fabrik bei ME/CFS kann den hochwertigen Treibstoff nur begrenzt nutzen. Bereits bei alltäglichen Anforderungen wird die Fabrik überlastet und muss immer wieder auf den minderwertigen Treibstoff zurückgreifen, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Dadurch sammeln sich Abfallprodukte schneller an, und die Maschinen werden stark beansprucht. Dieser Zustand destabilisiert die Fabrik und erhöht das Risiko, in einen überlasteten (hypermetabolischen) oder energiesparenden (hypometabolischen) Zustand zu wechseln.

 


 

4. Hypermetabolischer Zustand

  

Gesunde Menschen

Im hypermetabolischen Zustand steigt der Energiebedarf des Körpers stark an, etwa durch intensive körperliche Anstrengung oder akuten Stress. Der Körper reagiert, indem er die Energieproduktion erhöht, um diese gesteigerten Anforderungen zu decken. Gesunde Menschen können diesen Zustand für kurze Zeit stabil halten, da ihr Körper effizient zwischen verschiedenen Energiequellen wechseln und entstehende Abfallprodukte schnell abbauen kann. Nach der Belastung kehren sie in den normometabolischen Zustand zurück.

 

ME/CFS-Betroffene

Bei ME/CFS-Betroffenen kann schon geringfügiger Stress oder leichte Aktivität ausreichen, um den Körper in den hypermetabolischen Zustand zu versetzen. Dieser Zustand ist durch einen erhöhten Energiebedarf gekennzeichnet, den der Körper aufgrund der eingeschränkten Funktionstüchtigkeit seiner Systeme nur schwer decken kann. Hypothesen gehen davon aus, dass die Mitochondrien der Betroffenen aufgrund von Fragmentierungen und Fehlfunktionen nicht in der Lage sind, die nötige Energie effizient zu erzeugen. Auch zeigen In-vitro-Tests, dass die Energieproduktion der Zellen unter Stressbedingungen schnell an ihre Grenzen gerät. Diese Tests, die außerhalb des Körpers durchgeführt wurden, deuten darauf hin, dass ME/CFS-Betroffene ihre Zellleistung unter Belastung nur schwer stabilisieren können. Daher vermuten wir, dass die gesteigerten Anforderungen im hypermetabolischen Zustand für ME/CFS-Betroffene oft zu einer Überlastung und einem „Crash“ führen, der den Körper in den hypometabolischen Zustand zwingt.

 

Analogie zur Fabrik

Hypermetabolischer Zustand: In diesem Zustand sieht sich die Fabrik mit einer plötzlichen und intensiven Nachfragesteigerung konfrontiert. Die Maschinen laufen auf Hochtouren, und die Fabrik versucht, die gesteigerte Produktion zu bewältigen, auch wenn ihre Systeme bereits anfällig und teilweise überlastet sind. Die erhöhte Belastung führt zu einem schnellen Verschleiß der Maschinen, und die Fabrik beginnt, unter der intensiven Nachfrage zu schwanken. Während eine gesunde Fabrik kurzfristig die Nachfragesteigerung kompensieren könnte, droht die „ME/CFS-Fabrik“ bei anhaltender Überlastung zu kollabieren. Der Körper kann diesen Zustand nicht lange aufrechterhalten und wechselt in den „Notstrommodus“ des hypometabolischen Zustands, um Schäden zu vermeiden.

 


 

5. Hypometabolischer Zustand

 

Gesunde Menschen in Extremsituationen

Bei gesunden Menschen tritt der hypometabolische Zustand nur in extremen, bedrohlichen Situationen auf, in denen der Körper in einen „Überlebensmodus“ schaltet, um Energie zu sparen und lebenswichtige Funktionen aufrechtzuerhalten. Solche Situationen umfassen extreme Energiemängel, wie sie etwa bei längerer starker Unterkühlung, extremer Mangelernährung oder längerer Nahrungsentbehrung auftreten, bei denen der Körper nicht mehr genügend Nährstoffe zur Energiegewinnung erhält.

 

Dieser Zustand ist jedoch selten und normalerweise kurzlebig, da gesunde Menschen bei der Wiederherstellung günstiger Bedingungen in der Regel ihre Energiereserven schnell auffüllen und in einen normalen Stoffwechselzustand zurückkehren können.

 

Andere Erkrankungen/ Zustände

Darüber hinaus kann der hypometabolische Zustand in Fällen schwerster Erkrankungen oder kritischer Zustände beobachtet werden, beispielsweise bei Sepsis (einer lebensbedrohlichen Infektion, bei der eine extreme Entzündungsreaktion auftritt) und multiorganem Versagen, bei dem der Körper seine Ressourcen auf das Allernotwendigste reduzieren muss. Auch im Sterbeprozess oder bei fortgeschrittenen Zuständen wie intensivem Schock (z. B. bei schwerer Vergiftung) wechselt der Körper in diesen Notzustand, um das Überleben so lange wie möglich zu sichern.

 

ME/CFS-Betroffene

Bei ME/CFS-Betroffenen kann der Körper bereits aus geringem Anlass in den hypometabolischen Zustand übergehen. Dies kann durch kleinste Aktivitäten, Stress oder eine Auslastung der Energiereserven im hypermetabolischen Zustand ausgelöst werden. In diesem Zustand ist die Fähigkeit zur Energieproduktion so stark eingeschränkt, dass der Körper häufig keinen signifikanten Wechsel mehr zwischen aeroben und anaeroben Energieprozessen durchführt. Stattdessen werden nur minimale Energieressourcen mobilisiert, die oft nicht ausreichen, um die grundlegenden Funktionen aufrechtzuerhalten. Wir vermuten, dass Betroffene diesen Zustand als „Crash“ erleben, aus dem sie sich nur langsam und oft unvollständig erholen.

 

Wissenschaftliche Erkenntnisse

In-vitro-Ergebnisse: Erste In-vitro-Studien, bei denen Zellen außerhalb des Körpers untersucht wurden, deuten darauf hin, dass die Zellen von ME/CFS-Betroffenen im hypometabolischen Zustand weniger reaktionsfähig sind und auf Energieanforderungen kaum noch reagieren. Diese Zellen zeigen eine extrem niedrige Stoffwechselaktivität, was darauf hindeutet, dass sie selbst bei minimaler Belastung kaum Energie bereitstellen können. Da diese Ergebnisse nur im Labor beobachtet wurden, ist es technisch herausfordernd, diese Stoffwechselaktivitäten direkt am Menschen nachzuweisen. Die In-vitro-Ergebnisse unterstützen jedoch die Hypothese, dass der hypometabolische Zustand eine physiologische Grundlage für die lang anhaltenden Erholungszeiten bei ME/CFS sein könnte.

 

Analogie zur Fabrik

Hypometabolischer Zustand: In diesem Zustand läuft die Fabrik im Notstrommodus. Aufgrund der extremen Überlastung oder der ständigen Überforderung der Maschinen kann die Fabrik die Produktion nicht mehr aufrechterhalten. Sie reduziert daher alle Prozesse auf das absolut Notwendige und hält nur die lebenswichtigen Funktionen in Betrieb. Während eine gesunde Fabrik nach kurzer Zeit wieder zur Normalproduktion zurückkehren könnte, bleibt die „ME/CFS-Fabrik“ häufig im Notstrommodus gefangen, da ihre Systeme so stark geschwächt sind. In diesem Zustand ist kaum noch eine Reaktion auf Nachfragesteigerungen möglich, und selbst einfache Aufgaben stellen eine große Herausforderung dar.

 

Im hypometabolischen Zustand liegt der Schwerpunkt also auf Energieeinsparung, und ein nennenswerter Wechsel zwischen aerober und anaerober Energieproduktion findet kaum noch statt. Der Körper versucht lediglich, sich zu stabilisieren, ohne zusätzlichen Belastungen nachzugeben.

 



6. Zusammenfassung und Ausblick

 

Zusammenfassend zeigt sich, dass die verschiedenen Energieproduktionswege und Stoffwechselzustände bei ME/CFS-Betroffenen stark beeinträchtigt sind. Die aerobe und anaerobe Energieproduktion können den hohen Energiebedarf im Alltag nicht mehr effektiv decken, was häufig zu einem Wechsel in den hypometabolischen Zustand führt. Diese spezifischen Stoffwechselstörungen könnten Ansatzpunkte für künftige Forschung sein, um die Mechanismen hinter ME/CFS besser zu verstehen und geeignete Therapieoptionen zu entwickeln. Weitere In-vitro- und klinische Studien sind notwendig, um die zugrunde liegenden Dysfunktionen der Energieproduktion bei ME/CFS weiter zu entschlüsseln und die Hypothesen zu bestätigen.

 


 

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