Bedeutung des Pacing zur Vermeidung von Push-Crash-Zyklen | Prinzipien des Pacing sowie Risiken aktivierender Therapien | Auswirkungen von Aktivität | Praktische Pacing-Tipps | Informationen zum Herunterladen und Ausdrucken
In den 1980er Jahren entwickelten ME/CFS-Forschende, darunter die Gesundheitspsychologin Dr. Ellen M. Goudsmit, sowie Betroffene das Konzept des Pacing.
Pacing ist eine kontinuierliche Strategie des Aktivitäts- und Energiemanagements – nicht nur als Reaktion auf die Post-Exertionelle Malaise (PEM) – und kann bei ME/CFS zur Stabilisierung des Gesundheitszustands beitragen.
Pacing sollte ein unverzichtbarer Bestandteil des Alltags von ME/CFS-Betroffenen sein, um die Häufigkeit und Schwere von „Crashs“ und täglichen „Flare-ups“ zu minimieren oder idealerweise ganz zu verhindern.
Betroffene mit ME/CFS überschreiten bereits bei minimaler Anstrengung die anaerobe Schwelle, wie der 2-tägige kardiopulmonale Belastungstest (2-day-CPET) zeigt. Das bedeutet, dass sich das Glykolysesystem selbst bei geringer Aktivität deutlich schneller als bei gesunden Personen aktiviert und der Übergang in dieses System an „Crash-Tagen“ noch schneller erfolgt. Dies führt zu einer verstärkten Nutzung anaerober Energiequellen, was schwere muskuläre Fatigue und eine massive Verschlechterung der Symptome zur Folge hat. Deshalb sollten diese Betroffenen Aktivitäten vermeiden, die das Glykolysesystem übermäßig aktivieren, und keinen Sport treiben. Pacing ist entscheidend, um den gefährlichen „Push-Crash-Zyklus“ zu durchbrechen und vor Post-Exertioneller Malaise (PEM) zu schützen.
Im Folgenden erklären wir das Prinzip des Pacing. Dabei werden wir auch den Funktionsverlust durch gänzlich fehlende Aktivität behandeln. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass ME/CFS-Betroffene dazu neigen, ihre Belastungsgrenze zu überschreiten, da der einst aktive Lebensstil oft noch als Maßstab dient. Die Betroffenen sollten dem früher erlernten Verhalten – „Bewegung hilft“ – nicht länger bedingungslos folgen. ME/CFS-Betroffene sind in der Realität gezwungen, sich anzupassen, ihren gewohnten, aktiven Lebensstil sowie ihr altes Ich hinter sich zu lassen und sich selbst neu zu definieren.
Weiterhin erfordert Pacing ein hohes Maß an Disziplin, da die Strategie nicht nur während der Post-Exertionellen Malaise (PEM), sondern auch in Zeiten relativer Stabilität konsequent im Alltag integriert werden sollte.
Wichtig: Das Ziel von Pacing besteht ausdrücklich nicht darin, die Belastungsgrenze schrittweise zu steigern oder zu erweitern, wie es bei aktivierenden Ansätzen angestrebt wird.
Weder die Post-Exertionelle Malaise (PEM) noch die individuelle und instabile Belastungsgrenze sind verhandelbar und können nicht durch Motivation, kognitive Verhaltenstherapie oder jegliche Form der Aktivierung überwunden werden. Solche Interventionen gehen immer mit der Gefahr einer drastischen und dauerhaften Zustandsverschlechterung einher.
Betroffene mit ME/CFS können durch aktivierende Rehamaßnahmen einen erheblichen Funktionsverlust erleiden und traumatisiert werden. Erkrankte, die zuvor ohne Hilfsmittel mobil waren, sind nach solchen Therapien häufig auf einen Rollstuhl angewiesen oder werden bettlägerig.
Pacing bedeutet, sich je nach Schweregrad gezielt vor Überlastungen, Anstrengungen oder Triggern zu schützen. Gleichzeitig sollte die verbleibende Funktionsfähigkeit innerhalb der individuellen Grenzen effektiv genutzt werden, um Alltagsaufgaben entsprechend den eigenen Möglichkeiten bewältigen zu können. Dies ist entscheidend, um einer Minderung der Funktionsfähigkeit, wie etwa durch Muskelabbau, vorzubeugen und eine Verschlechterung des Schweregrads, beispielsweise von moderat zu schwer, zu verhindern.
ME/CFS-Betroffene haben oft Schwierigkeiten, sich mit den starken Einschränkungen in ihrem neuen Leben abzufinden, weshalb sie häufig eher gebremst als ermutigt werden müssen.
Pacing umfasst:
Um die Alltagsfunktionen zu erhalten und den Gesundheitszustand möglichst zu stabilisieren, ist es für Betroffene essentiell, stets innerhalb ihrer individuellen Belastungsgrenze zu bleiben und darüber hinaus ausreichend Pausen einzuplanen. Die Pausen haben absolute Priorität.
Es geht hierbei nicht um eine einfache 1:1-Balance zwischen Aktivitäten und Pausen. Vielmehr muss die Gewichtung flexibel angepasst und individuell auf die Art und Schwere der Symptome sowie auf das aktuelle Spektrum innerhalb des Schweregrads abgestimmt werden.
Erfolgreiches Pacing bei ME/CFS berücksichtigt die verschiedenen Dimensionen von Triggern – physischer, kognitiver, orthostatischer, sensorischer und emotionaler Natur. Es erfordert eine ganzheitliche Planung der Anstrengungen vor, während und nach Aktivitäten und muss präventiv eingesetzt werden, um übermäßigen Energieverbrauch und gesundheitliche Rückschläge zu vermeiden.
Da sich der Zustand eines ME/CFS-Betroffenen täglich ändern kann, stellt dies eine erhebliche Herausforderung dar und folgt keinem festen Schema. Pacing umfasst zudem trotz relativer Stabilität die konsequente Planung von Zeiten der völligen Dunkelheit und Ruhe, um einen Zustand nahe der Entspannung oder Meditation zu erreichen, frei von Reizen und Ablenkungen. Ruhe ist die wichtigste Strategie im Pacing, um weiteren zellulären Schaden zu vermeiden.
Bei Schlafproblemen kann es sinnvoll sein, neben regelmäßigen Ruhepausen auch eine medikamentöse Behandlung in Erwägung zu ziehen. Atemübungen, Meditation und Entspannungstechniken wirken beruhigend und unterstützen effektiv. Zur Vorbeugung von PEM ist es besonders wichtig, belastende Situationen, insbesondere emotionale Konflikte, zu vermeiden.
In schweren Fällen von ME/CFS ist die Funktionsfähigkeit jedoch so stark eingeschränkt, dass Pacing kaum noch umsetzbar oder vollständig unmöglich wird.
Der Versuch, die Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten, ist unabdingbar, birgt jedoch ständig das Risiko, die fragile Grenze zur PEM zu überschreiten und dadurch einen Crash auszulösen. Der Übergang zur PEM ist diffus und kann stark zwischen den Betroffenen variieren. Einzelne oder wiederholte Crashs können zu einem sofortigen Funktionsverlust und einer dauerhaften Verschlechterung des Schweregrads führen.
Wenn Betroffene mit ME/CFS bei Einsetzen eines Crashs durch Post-Exertional Malaise (PEM) dennoch „pushen“ – also versuchen, weiterhin aktiv zu bleiben und/oder sich Triggern aussetzen – können die Folgen verheerend sein.
In dieser Phase ist der Körper in einem sehr fragilen Zustand, in dem die verfügbaren Energiereserven bereits weitgehend aufgebraucht sind und dringend absolute Ruhephasen benötigt werden. Das Pushen führt dazu, dass die ohnehin instabile Belastungsgrenze deutlich überschritten und zukünftig verschoben wird, was eine erhebliche Verschlechterung der Symptome und eine mögliche Verschiebung innerhalb des Spektrums oder eine Verschlechterung des Schweregrads nach sich ziehen kann.
Da die PEM in ihrer Schwere und Auswirkung stark variieren kann, ist es besonders riskant, diese Phase zu ignorieren. Durch das Übergehen von Warnsignalen und das Fortsetzen von Aktivitäten kann es zu einem dauerhaften Funktionsverlust kommen. In sehr schweren Fällen kann ME/CFS durch direkte Komplikationen oder Folgeerkrankungen lebensbedrohlich sein und in seltenen Fällen zum Tod führen.
Merke: Pacing ist keine Therapie, sondern dient als Strategie dazu, die Funktionsfähigkeit zu erhalten, den Gesundheitszustand und die Abwärtsspirale durch PEM zu verlangsamen oder zu unterbrechen, um den Gesundheitszustand des Betroffenen zu stabilisieren.
Um PEM oder eine Verschlechterung der Symptome zu vermeiden, kann es hilfreich sein, Aktivitäten zu priorisieren. Überlege, welche Aufgaben dringender sind und welche später oder gar nicht erledigt werden können. Ein Ziel könnte sein, je nach Energielevel nur eine wichtige Aktivität pro Tag einzuplanen.
Anstrengende Aufgaben für den ME/CFS-Betroffenen sollten an gesunde Personen, Familie, Freunde oder Pflegekräfte abgegeben werden. Beispiele: Einkaufen, Haushaltsaufgaben, Unterstützung bei der Körperpflege und der Nahrungsaufnahme.
Passe deine Alltagsaktivitäten an, um sie möglichst schonend und effizient zu gestalten. Verrichte Tätigkeiten beispielsweise im Sitzen statt im Stehen und erledige Aufgaben in kleinen Etappen mit regelmäßigen Pausen. Im Fokus sollten immer die Pausen liegen. Nutze unbedingt Hilfsmittel wie Hocker oder Rollstühle, auch wenn es Überwindung kostet oder andere dich ermutigen, ohne Hilfsmittel auszukommen. Es ist entscheidend, auf deinen Körper zu hören und ihn zu entlasten, anstatt dich zu pushen.
Hilfsmittel sind kein Zeichen von Schwäche. Sie sind wertvolle Mittel, um dich vor Flare-ups, Crashs oder im schlimmsten Fall vor einer dauerhaften Verschlechterung entweder innerhalb deines Spektrums oder deines Schweregrades (z.B. von moderat → schwer) zu bewahren.
Beachte individuelle Warnsignale wie Schmerzen oder eine drastische kognitive und/oder physische Entkräftung, die auf einen drohenden Crash hinweisen können. Diese Signale sind nicht nur von Person zu Person verschieden, sondern können sich auch spontan verändern. Brich deine Tätigkeit gänzlich ab und/oder begib dich in einen Zustand völliger Ruhe, frei von jeglichen Reizen oder Ablenkungen.
Veränderungen der Herzfrequenz können ein frühes Warnsignal sein, wenn ein Patient seine Belastungsschwelle überschritten hat. Mehr dazu (englisch)