Leitfaden für medizinisches Fachpersonal
Definition und Auslöser von ME/CFS
Die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS), ICD-10-Code: G93.3, ist eine schwerwiegende, chronische Multisystemerkrankung, die häufig nach Infektionen wie Influenza, infektiöser Mononukleose (Pfeiffersches Drüsenfieber) oder COVID-19 auftritt. Auch andere Auslöser, wie chirurgische Eingriffe, Impfungen oder physische Traumata, können eine Rolle spielen. Nach dem interdisziplinären, kollaborativen D-A-CH Konsensus-Statement zur Diagnostik und Behandlung von ME/CFS (2024) betrifft jene Erkrankung mehrere Körpersysteme, darunter das zentrale und autonome Nervensystem, das Immunsystem, das kardiovaskuläre System und den Stoffwechsel.
Spektrum der Schweregrade von ME/CFS
- Mild: Betroffene erfahren eine körperliche und kognitive Einschränkung, bei der die zuvor bestehende Leistungsfähigkeit um mindestens 50 % reduziert ist.
- Moderat: Betroffene sind meist nicht mehr in der Lage, das Haus regelmäßig zu verlassen und benötigen Unterstützung im Alltag.
- Schwer: Betroffene sind überwiegend bettlägerig und können grundlegende Aktivitäten nur mit Unterstützung ausführen.
- Sehr schwer: Betroffene sind vollständig bettlägerig, oft unfähig zu sprechen, und in einigen Fällen ist eine künstliche Ernährung erforderlich.
Post-Exertionelle Malaise (PEM) als zentrales Merkmal
Das Kernmerkmal von ME/CFS ist die Post-Exertionelle Malaise (PEM), die sich aus vier zentralen Charakteristika zusammensetzt: Belastungsintoleranz, Symptomexazerbation, Verschlechterung des Allgemeinzustands und einer physiologischen Aktivitäts- und Erholungsdysfunktion, bei der der Körper trotz Ruhe nicht regenerieren kann.
Diese belastungsinduzierte, meist zeitverzögerte (bis zu 72 Stunden) Reaktion führt zu einem sogenannten „Crash“ – einer schweren Energiekrise, in der der Körper nicht mehr in der Lage ist, auf weitere Belastungen zu reagieren. Neben körperlicher, kognitiver, emotionaler, sensorischer und orthostatischer Belastung können auch Infektionen, bestimmte Medikamente und Operationen das Risiko eines PEM-induzierten Crashs erhöhen. Diese können den Gesundheitszustand dauerhaft verschlechtern.
Variable Belastungsschwelle und Risiko für Crashs
Die Belastungsschwelle bei ME/CFS ist diffus und variiert je nach Schweregrad und Tagesform. Sie kann sich durch tägliche Schwankungen und kumulative Belastungen verändern. Kurzzeitige Einbrüche („Flare-Ups“) können über den Tag verteilt auftreten. Werden diese ignoriert, können sie zu einem PEM-induzierten Crash führen, der das Risiko einer dauerhaften Verschlechterung birgt.
Krankenhausaufnahme
Die Aufnahme sollte im Voraus sorgfältig mit den Betroffenen und medizinischem Fachpersonal geplant werden, um unnötige Belastungen und das Risiko eines PEM-induzierten Crashs zu vermeiden. Der Aufnahmeprozess sollte so kurz und schonend wie möglich gestaltet werden.
Transport und Nachsorge je nach Schweregrad
Abhängig vom Schweregrad (s. o.) sollte ein geeigneter Transport zum und vom Krankenhaus sichergestellt werden. Bei der Entlassung sind die Nachsorgeoptionen zu besprechen, um einen reibungslosen Übergang in die häusliche Pflege zu ermöglichen.
Besonderheiten während des Krankenhausaufenthalts
- Ruhige und reizarme Umgebung: Betroffene benötigen eine angepasste Umgebung, da individuelle Trigger wie Licht, Geräusche oder Gerüche Symptome verstärken können. Ein Einzelzimmer mit gedämpftem Licht, minimalem Geräuschpegel und reduzierten Störungen durch Türöffnen oder medizinische Geräte sollte bereitgestellt werden. Falls ein Einzelzimmer nicht möglich ist, sind alternative Maßnahmen zur Reizreduzierung erforderlich.
- Minimierung des Personalkontakts: Die Anzahl des medizinischen Personals sollte möglichst gering gehalten werden, insbesondere bei Visiten, da Betroffene Gespräche, Gerüche und die bloße Anwesenheit mehrerer Personen als Belastung empfinden können.
- Sensorische Reize: Licht, Lärm, Gerüche, Berührungen, Bewegungen und Vibrationen werden individuell stark wahrgenommen, unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung.
- Körperliche Anstrengung: Die individuelle Belastungsgrenze darf unter keinen Umständen überschritten werden, da dies durch PEM und Flare-Ups zu einer unwiderruflichen Verschlechterung führen kann. Aktivierungen oder Bewegungsaufforderungen sind zu vermeiden.
- Kognitive Anstrengung: Aktivitäten wie Lesen oder Gespräche können ebenfalls belastend sein und sollten minimiert werden.
- Orthostatischer Stress: Bei 70–90 % der Betroffenen kann orthostatischer Stress die Gehirndurchblutung um bis zu 30 % reduzieren, was Benommenheit und kognitive Beeinträchtigungen verursacht. Längeres Sitzen oder Stehen kann den Krankheitsverlauf verschlechtern.
- Emotionaler Stress und Infekte: Diese Stressoren können Reaktivierungen und eine Verschlechterung des Gesundheitszustands auslösen.
- Schlafunterbrechungen: Pflegetätigkeiten sollten so gestaltet werden, dass Schlafunterbrechungen minimiert werden.
Etwaige Komorbiditäten
- Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS): Tritt bei etwa 10–17 % der Betroffenen auf und erfordert besondere Beachtung.
- Nahrungsmittel- und Medikamentenunverträglichkeiten: Häufig sind Off-Label- und Low-Dose-Medikationen notwendig (siehe Handout „Off-Label-& Low-Dose-Medikation bei ME/CFS“).
- Chemikalienunverträglichkeiten (MCS): Diese müssen ebenfalls bei der Behandlung berücksichtigt werden.
Nachsorge
Kann die notwendige Pflege zu Hause nicht gewährleistet werden, stellt ein vorübergehender Aufenthalt auf einer Palliativstation eine Alternative zur Normalstation dar. Diese bietet eine ruhigere Umgebung, individuelle Betreuung und intensive Unterstützung, um Überlastung zu vermeiden und die speziellen Bedürfnisse von ME/CFS-Betroffenen zu berücksichtigen.