Kurzzusammenfassung
In seinem Vortrag auf der Int. ME/CFS Conference 2025 stellte Prof. Christian Puta zentrale Erkenntnisse zu den pathophysiologischen Mechanismen der Post-Exertional Malaise (PEM) vor – dem Hauptmerkmal von ME/CFS. PEM bezeichnet eine verzögerte, anhaltende Verschlechterung verschiedener Symptome nach körperlicher, kognitiver, emotionaler, orthostatischer (aufrechter) oder sensorischer Anstrengung. Sie ist nicht durch Ruhe rückbildungsfähig und muss klar von Fatigue unterschieden werden. In der Diagnostik ist PEM das zentrale Kriterium und grenzt ME/CFS von anderen Erkrankungen ab.
Puta erläuterte, dass PEM auf eine systemische Fehlregulation zurückzuführen ist. Zu den wesentlichen Mechanismen zählen eine gestörte Mikrozirkulation mit deformierten Erythrozyten, eine eingeschränkte Gefäßweitung durch reduzierte NO-Produktion sowie eine gestörte Sauerstoffausschöpfung unter Belastung. Reduzierte NO-Produktion bedeutet, dass der Körper weniger Stickstoffmonoxid bildet. Dieses Molekül ist wichtig, weil es die Blutgefäße erweitert und so die Durchblutung unterstützt. Ist die NO-Produktion gestört, bleiben die Gefäße verengt und es kommt zu einer schlechteren Sauerstoffversorgung von Gewebe und Organen.
Hinzu kommen mitochondriale Funktionsstörungen, die zu einem frühzeitigen Wechsel auf anaerobe Energiegewinnung führen und mit Laktatakkumulation und Muskelfatigue einhergehen.
Auch das Immunsystem ist fehlreguliert: Es zeigen sich Zeichen chronischer Aktivierung, eine verminderte Fähigkeit zur Virusabwehr sowie inflammatorische Prozesse im zentralen Nervensystem. Puta beschrieb zudem mögliche neuroinflammatorische Mechanismen durch mikrogliale Aktivierung, die zur kognitiven Fatigue und Reizverarbeitungsschwäche beitragen könnten.
Im Unterschied zum Fatigatio-Vortrag 2024 vertieft Puta 2025 die immunologischen Mechanismen hinter PEM. Neu sind unter anderem die Beschreibung vesikelgebundener mitochondrialer DNA als möglicher Auslöser von Neuroinflammation, immunologische Dysregulationen sowie eine Fallbeobachtung zur Immunaktivität nach Rituximab. Diese Erkenntnisse ergänzen die physiologischen Aspekte aus 2024 um molekulare und zelluläre Zusammenhänge.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Verständnis der Post-Exertional Malaise (PEM)
2. Gestörte Mikrozirkulation und Sauerstoffversorgung der Muskulatur
3. Mitochondriale Dysfunktion und gestörter Energiestoffwechsel
4. Immunologische und entzündliche Reaktionen durch PEM
4.1 Fehlgeleitete Immunantwort auf Belastung
4.2 Vesikelgebundene mtDNA als neuroinflammatorischer Auslöser
4.3 Chronische Immunaktivierung und Rituximab-Fallbeobachtung
5. Neurologische Auswirkungen und zentrale Beteiligung
6. Diagnostische Bedeutung von PEM
6.1 PEM als zentrales Diagnosekriterium
6.2 Bedeutung und Risiko des 2-Tages-CPET
6.3 Pacing als zentrale therapeutische Maßnahme
7.1 Biologische Plausibilität statt psychosomatischer Erklärungsansatz
1. Einleitung: Verständnis der Post-Exertional Malaise (PEM)
Post-Exertional Malaise (PEM) bezeichnet eine charakteristische Zustandsverschlechterung nach kognitiver, körperlicher, mentaler, orthostatischer (in aufrechter Position) oder sensorischer Anstrengung. Sie gilt als Hauptmerkmal von ME/CFS und wird auch häufig mit „Long COVID“ in Verbindung gebracht.
Hinweis: Erfüllen Betroffene nach einer COVID-19-Erkrankung die Kanadischen Konsenskriterien (CCC), insbesondere das Vorliegen von PEM, so liegt definitionsgemäß die Erkrankung ME/CFS vor. Dennoch wird in der wissenschaftlichen Literatur und in Vorträgen leider oft von Long oder Post COVID gesprochen, auch wenn es sich faktisch um ME/CFS handelt.
Wichtig ist, dass PEM nicht durch Erholung abgewendet werden kann. Die körperliche Regeneration ist vielmehr tiefgreifend gestört. In diagnostischer Hinsicht ist PEM ein zentrales Kriterium für ME/CFS und muss bei der Anamnese aktiv erfragt werden.
PEM ist kein einheitliches Phänomen: Zeitpunkt, Dauer, Intensität und die Art der Symptome variieren stark zwischen den Betroffenen. Bei manchen beginnt PEM wenige Stunden nach Belastung, bei anderen erst nach Tagen. Auch die Erholungsdauer kann zwischen wenigen Tagen und mehreren Wochen schwanken.
Während einige primär Muskel- oder Nervenschmerzen verspüren, erleben andere vor allem kognitive Einschränkungen oder autonome Beschwerden. Diese Bandbreite macht deutlich, dass PEM ein dynamischer Symptomkomplex ist, nicht ein einzelnes Symptom.
Wahrscheinlich ist es das Ergebnis mehrerer biologischer Fehlregulationen, die individuell verschieden zusammenspielen. Genau deshalb ist die Erforschung der zugrundeliegenden Mechanismen so zentral.
Der Vortrag baut auf den Inhalten der Fatigatio-Fachtagung 2024 auf, erweitert diese jedoch um neue immunologische und neuroinflammatorische Erkenntnisse. Im Fokus stehen nun insbesondere molekulare Prozesse, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung von PEM beitragen.
2. Gestörte Mikrozirkulation und Sauerstoffversorgung der Muskulatur
Puta betonte in seinem Vortrag auf der Int. ME/CFS Conference 2025 der Charité, dass Störungen in der Mikrozirkulation, also in den kleinsten Blutgefäßen, eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Post-Exertional Malaise (PEM) spielen. Studien zeigen, dass viele Betroffene unter Belastung eine deutlich reduzierte systemische Sauerstoffausschöpfung aufweisen (Puta, Int. ME/CFS Conference 2025; Haunhorst et al. 2025).
Ein wesentlicher Mechanismus ist die endotheliale Dysfunktion. Dabei sind die Innenwände der Blutgefäße geschädigt und verlieren ihre Fähigkeit, sich bei Bedarf ausreichend zu weiten. Normalerweise sorgt das Molekül Stickstoffmonoxid (NO) für diese Weitstellung. Ist die NO-Produktion jedoch gestört, wie in mehreren Studien bei ME/CFS- und Post-COVID-Betroffenen nachgewiesen, bleibt der Gefäßdurchmesser zu klein (Haunhorst et al. 2025; Puta, Fatigatio-Vortrag 2024). Der Blutfluss ist eingeschränkt und die Sauerstoffversorgung des Gewebes verschlechtert sich unter Belastung erheblich.
Puta verwies in diesem Zusammenhang auf den Arginin-Stoffwechsel. Arginin ist eine Aminosäure, die als Vorstufe für die Bildung von NO dient. Ist Arginin im Körper nur unzureichend vorhanden oder wird es durch entzündliche Prozesse beschleunigt abgebaut, wird auch weniger NO gebildet. Die Folge ist eine weitere Einschränkung der Gefäßweite, wodurch sich die Durchblutung zusätzlich verschlechtert.
Zudem wurden bei Betroffenen mit ME/CFS und Post COVID häufig deformierte Erythrozyten gefunden, also veränderte rote Blutkörperchen, die ihre elastische Form verlieren. Diese können sich schlechter durch die feinen Kapillaren bewegen. Ein solches Phänomen wurde bereits in den 1990er Jahren von Leslie Simpson beschrieben und durch aktuelle Untersuchungen im Umfeld von Prof. Puta und Wilhelm Bloch erneut bestätigt (Puta, Int. ME/CFS Conference 2025, unter Verweis auf Ergebnisse aus der Arbeitsgruppe um Lara Winsow).
In einigen Fällen kommen sogenannte Mikrogerinnsel, auch „Microclots“ genannt, hinzu, die ebenfalls den Blutfluss blockieren können (Haunhorst et al. 2025). Die Folge ist, dass eine Vielzahl an Geweben, insbesondere die Muskulatur, bei Aktivität unterversorgt bleibt. Diese unzureichende Sauerstoffversorgung kann zur schnellen muskulären Übersäuerung und zu lokaler Muskelfatigue führen, die sich nicht unmittelbar nach Belastung, sondern oft zeitverzögert im Rahmen von PEM äußert.
3. Mitochondriale Dysfunktion und gestörter Energiestoffwechsel
Ein weiterer zentraler Aspekt im Vortrag von Prof. Christian Puta war die gestörte Energiegewinnung auf zellulärer Ebene. Die Mitochondrien, also die Kraftwerke der Zellen, arbeiten bei Betroffenen mit ME/CFS oder Post COVID nachweislich ineffizient (Puta, Int. ME/CFS Conference 2025; Haunhorst et al. 2025). In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass sowohl die Struktur als auch die Funktion dieser Zellorganellen beeinträchtigt sind. Dazu zählen eine verringerte Aktivität der Komplexe der oxidativen Phosphorylierung sowie sichtbare Schäden an der inneren Mitochondrienmembran (Haunhorst et al. 2025).
Diese Störungen führen dazu, dass bei körperlicher Belastung deutlich weniger ATP, also zelluläre Energie, produziert wird. Um den Energiemangel auszugleichen, schaltet der Körper schneller auf die sogenannte anaerobe Glykolyse um. Dabei handelt es sich um eine weniger effiziente Form der Energiegewinnung, bei der vermehrt Laktat entsteht. Die Ansammlung von Laktat führt zur Übersäuerung des Gewebes und gilt als möglicher Auslöser muskulärer Fatigue sowie nachfolgende „Crash“-Symptomatik aufgrund von PEM (Puta, Int. ME/CFS Conference 2025).
Hinzu kommt, dass diese metabolische Fehlanpassung nicht nur unter Belastung auftritt. Bei vielen Betroffenen ist die anaerobe Energiebereitstellung bereits in Ruhephasen auffällig erhöht. Diese Beobachtungen werden durch Metabolom-Analysen gestützt, die auf eine Verschiebung hin zu einem glykolytisch dominierten Stoffwechsel hinweisen (Haunhorst et al. 2025). Puta erläuterte außerdem, dass insbesondere länger andauernde Aktivitäten problematisch seien. In diesen Situationen wäre der Körper besonders auf eine funktionierende aerobe Energiegewinnung angewiesen (Puta, Int. ME/CFS Conference 2025).
4. Immunologische und entzündliche Reaktionen durch PEM
4.1 Fehlgeleitete Immunantwort auf Belastung
In seinem Vortrag betonte Puta, dass körperliche Belastung bei Betroffenen mit ME/CFS oder Post COVID eine unphysiologische Immunreaktion auslösen kann. Anders als in früheren Ausführungen (Fatigatio-Vortrag 2024), in denen vorrangig von einer chronisch erhöhten Entzündungsaktivität die Rede war, liefert der aktuelle Vortrag detaillierte Einblicke in zelluläre Fehlfunktionen und immunologische Langzeitveränderungen.
Im Zentrum steht die Erkenntnis, dass körperliche Aktivität zur Anreicherung verschiedener Signalmoleküle führt, darunter Laktat, reaktive Sauerstoffspezies (ROS) und Prostaglandine. Diese Stoffe wirken im Organismus als Alarmsignale und aktivieren das Immunsystem sowohl lokal in der Muskulatur als auch systemisch im gesamten Körper (Haunhorst et al. 2025).
Jene Reaktion verläuft bei Betroffenen jedoch dysreguliert. Immunzellen wie CD8-positive T-Zellen zeigen Zeichen eines fortschreitenden Funktionsverlusts, was auf eine chronische Überbeanspruchung hinweist. Gleichzeitig ist die Mobilisierung natürlicher Killerzellen (NK-Zellen) während körperlicher Aktivität abgeschwächt (Puta, Int. ME/CFS Conference 2025).
4.2 Vesikelgebundene mtDNA als neuroinflammatorischer Auslöser
Zudem können aus belastetem Gewebe Bestandteile wie mitochondriale DNA in kleinen Vesikeln freigesetzt werden, die über das Blut in andere Organe gelangen. Besonders problematisch ist, dass diese Vesikel vermutlich auch die Blut-Hirn-Schranke passieren können. Dort aktivieren sie Mikrogliazellen, also die Immunzellen des Gehirns, und führen zu einer neuroinflammatorischen Reaktion, unter anderem über die Produktion von Interleukin-1β (Haunhorst et al. 2025).
Diese Vesikel enthalten häufig mitochondriale DNA (mtDNA), die außerhalb der Zelle als sogenanntes „damage-associated molecular pattern“ (DAMP) erkannt wird. Obwohl keine Infektion vorliegt, stuft das Immunsystem diese Bestandteile als Gefahrensignale ein. Im zentralen Nervensystem führt dies zur Aktivierung von Mikrogliazellen und zur Ausschüttung entzündlicher Zytokine. Puta verwies in seinem Vortrag auf Studien, die diesen Mechanismus auch bei anderen chronisch-entzündlichen Erkrankungen beobachtet haben (Puta, Int. ME/CFS Conference 2025; West et al. 2015).
4.3 Chronische Immunaktivierung und Rituximab-Fallbeobachtung
Auch systemisch zeigen sich Hinweise auf eine chronische Immunaktivierung. Reaktivierungen latenter Viren wie dem Epstein-Barr-Virus (EBV) scheinen dabei eine Rolle zu spielen. In einer Fallbeobachtung, die Puta im Vortrag vorstellte, war selbst Monate nach einer Behandlung mit Rituximab eine anhaltende Immunaktivität nachweisbar, obwohl sich die klinische Situation der betroffenen Person gebessert hatte.
Besonders auffällig war, dass bestimmte CD8-T-Zellen, sogenannte terminal differenzierte Effektor-Gedächtniszellen (TEMRA), auch 20 Monate nach Therapie noch deutlich erhöht waren. Zusätzlich wurden myeloid-derived suppressor cells (MDSCs) nachgewiesen, eine Zellpopulation, die bei chronischen Infektionen auftritt und mit anhaltender Immunfehlregulation assoziiert ist.
Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass klinische Stabilität nicht gleichbedeutend mit immunologischer Normalisierung ist. MDSCs gelten als immunsuppressive Zellen, die bestimmte Immunantworten unterdrücken. In der Fallbeobachtung traten sie erst nach der B-Zell-Normalisierung durch Rituximab auf. Dies spricht für eine Umstrukturierung der Immunantwort, deren langfristige Bedeutung noch nicht vollständig verstanden ist.
5. Neurologische Auswirkungen und zentrale Beteiligung
Neben den immunologischen und metabolischen Veränderungen rückt auch das zentrale Nervensystem zunehmend in den Fokus der PEM-Forschung. Im Vergleich zum Fatigatio-Vortrag 2024, der neurokognitive Symptome eher funktionell einordnete, erweitert der aktuelle Vortrag dieses Verständnis um mögliche pathophysiologische Mechanismen wie mikrogliale Aktivierung durch vesikelgebundene mtDNA und Hinweise auf neuroinflammatorisch vermitteltes „Sickness Behavior“ (dt. Krankheitsgefühl).
Eine mögliche Ursache liegt in der gestörten Barrierefunktion zwischen Blut und Gehirn. Während die Blut-Hirn-Schranke (BHS) bei Gesunden das zentrale Nervensystem vor unerwünschten Substanzen schützt, gibt es Hinweise darauf, dass sie bei ME/CFS und Post COVID durchlässiger ist – insbesondere unter Belastung. Puta verwies dabei auf Beobachtungen, wonach über das Blut transportierte Bestandteile wie mitochondriale DNA oder entzündliche Vesikel ins Gehirn gelangen können und dort eine neuroinflammatorische Reaktion auslösen (Puta, Int. ME/CFS Conference 2025; Haunhorst et al. 2025).
Im Gehirn selbst aktivieren diese Signale Mikrogliazellen, die Immunzellen des zentralen Nervensystems. Diese setzen entzündungsfördernde Botenstoffe wie Interleukin-1β frei, was in der Folge zu einer Störung neuronaler Prozesse führen kann. Der resultierende Zustand ähnelt einem „Sickness Behavior“, also einem krankheitsbedingten Verhaltensmuster, wie es auch bei schweren Infektionen beobachtet wird: Konzentrationsprobleme, Denkverlangsamung, Reizüberflutung und sozialer Rückzug sind häufige Folgen (Haunhorst et al. 2025).
Ergänzend zeigen Studien bei Post-COVID-Betroffenen Hinweise auf eine reduzierte Hirndurchblutung, insbesondere in den frontalen Arealen. Diese Veränderungen deuten auf einen erhöhten Energiebedarf bei gleichzeitig unzureichender Versorgung hin, was die neuronale Belastbarkeit zusätzlich verringert (Haunhorst et al. 2025). Die Symptome, die viele Betroffene während oder nach Anstrengung erleben, etwa „Brain Fog“, Wortfindungsstörungen oder kognitive Überforderung, lassen sich dadurch besser erklären.
6. Diagnostische Bedeutung von PEM
6.1 PEM als zentrales Diagnosekriterium
Post-Exertional Malaise (PEM) ist nicht nur das Kernmerkmal von ME/CFS, sondern auch das zentrale diagnostische Kriterium. Puta betonte in seinem Vortrag, dass das Vorliegen von PEM essenziell ist, um die Diagnose ME/CFS nach den Kanadischen Konsenskriterien oder den Internationalen Konsenskriterien (ICC) zu stellen (Puta, Int. ME/CFS Conference 2025).
Besonders wichtig ist, dass PEM als pathophysiologischer Mechanismus verstanden werden muss und nicht mit allgemeiner Fatigue, chronischer Fatigue oder normaler Belastungsreaktion gleichgesetzt werden darf. Während gesunde Menschen sich durch Ruhe rasch erholen können, ist dies bei Betroffenen mit ME/CFS nicht der Fall.
Wie Puta erklärte, wird ein Crash durch PEM von vielen Betroffenen nicht als unmittelbare Reaktion wahrgenommen, sondern eher als ein „Kippen des Systems“. Dieses Phänomen macht es notwendig, PEM aktiv in der Anamnese zu erfragen und nicht vorauszusetzen.
6.2 Bedeutung und Risiko des 2-Tages-CPET
Hilfreich für die Diagnose kann in bestimmten Fällen ein kardiopulmonaler Belastungstest über zwei Tage (CPET) sein, der eine pathologische Reaktion insbesondere am zweiten Tag aufzeigt – ein Hinweis auf eine gestörte Wiederherstellungsfähigkeit nach Belastung.
Hinweis: Der zweitägige Belastungstest (CPET) muss sorgfältig abgewogen werden. Betroffene müssen vorab umfassend über die Risiken aufgeklärt werden, da diese Belastung einen schweren Crash auslösen und zu einer langfristigen oder irreversiblen Zustandsverschlechterung führen kann.
6.3 Pacing als zentrale therapeutische Maßnahme
Da bislang keine kausale Therapie für ME/CFS existiert, liegt der Fokus der Behandlung auf der Stabilisierung des Gesundheitszustands und der Vermeidung von Verschlechterungen. Puta betonte, dass ein zentrales Ziel darin besteht, Belastungsspitzen zu vermeiden und die individuelle Belastungsgrenze nicht zu überschreiten – also einen Crash präventiv zu verhindern (Puta, Int. ME/CFS Conference 2025).
Ein zentrales Element ist dabei das sogenannte Pacing. Darunter versteht man eine vorausschauende Ruhe- und Aktivitätssteuerung, die darauf abzielt, Tätigkeiten so zu gestalten, dass die persönliche Belastbarkeit nicht überschritten wird. Dabei geht es nicht nur um körperliche Aktivitäten, sondern auch um kognitive, sensorische oder soziale Reize.
Wie Puta erklärte, entsteht ein Crash nicht durch ein Zuviel im objektiven Sinn, sondern durch ein Zuviel für den jeweiligen Organismus. Selbst kleine Reize können einen Crash auslösen, wenn die physiologische Belastungsgrenze bereits erreicht ist.
Zur Orientierung kann die sogenannte anaerobe Schwelle, auch ventilatorische Schwelle 1 (VT1) genannt, dienen. Sie markiert den Punkt, an dem der Körper beginnt, vermehrt auf anaerobe Energiegewinnung umzuschalten, weil die aerobe Versorgung nicht mehr ausreicht. Studien zeigen, dass ein Crash häufig ausgelöst wird, wenn diese Schwelle überschritten wird (Haunhorst et al. 2025; Puta, Int. ME/CFS Conference 2025).
Problematisch ist, dass VT1 bei vielen Betroffenen bereits bei sehr geringer Belastung erreicht wird – etwa beim Aufstehen, Sitzen oder langsamen Gehen. Puta verwies in diesem Zusammenhang auf den sogenannten Sit-to-Stand-Test, bei dem Betroffene 20 Sekunden lang wiederholt vom Stuhl aufstehen. Diese Belastung entspricht etwa vier metabolischen Äquivalenten (4 METs). Bei Betroffenen zeigt sich in Tests, dass bereits in diesem Bereich ein Plateau der Sauerstoffausschöpfung auftritt – ein Hinweis auf gestörte Sauerstoffverwertung im Gewebe.
7. Fazit und Einordnung
7.1 Biologische Plausibilität statt psychosomatischer Erklärungsansatz
Der Vortrag von Prof. Christian Puta liefert ein fundiertes, interdisziplinär anschlussfähiges Verständnis der Post-Exertional Malaise (PEM) als komplexe pathophysiologische Reaktion. Besonders deutlich wurde, dass es sich bei PEM nicht um ein subjektives Symptom handelt, sondern um eine messbare, biophysiologisch begründbare Störung, die mehrere Systeme betrifft: Mikrozirkulation, Mitochondrienfunktion, Immunreaktion und zentrales Nervensystem stehen dabei in enger Wechselwirkung.
Puta machte in seinem Vortrag deutlich, dass die pathologischen Reaktionen auf körperliche Belastung bei ME/CFS und Post COVID nicht Ausdruck von Dekonditionierung oder psychischer Überforderung sind, sondern auf klar identifizierbare biologische Fehlfunktionen zurückgehen. Dazu zählen die gestörte Sauerstoffverwertung durch deformierte Erythrozyten und endotheliale Dysfunktion, die eingeschränkte ATP-Produktion in den Mitochondrien, die dysregulierte Immunantwort mit persistierender Aktivierung sowie neuroinflammatorische Prozesse im Gehirn.
Besonders hervorzuheben ist die Betonung der systemischen Entgleisung, die durch scheinbar geringe Reize ausgelöst werden kann. Das verdeutlicht, warum klassische Rehabilitationsstrategien wie Bewegungstherapie bei ME/CFS kontraindiziert sein können. Stattdessen ist eine präzise Belastungssteuerung notwendig, um das biologische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und Crashs zu verhindern.
7.2 Neue Erkenntnisse im Jahresvergleich 2024 zu 2025
Der Vortrag von Prof. Christian Puta auf der International ME/CFS Conference 2025 baut inhaltlich auf seinem Beitrag bei der Fatigatio-Fachtagung 2024 auf, erweitert diesen aber um neue wissenschaftliche Perspektiven. Während der Fatigatio-Vortrag grundlegende physiologische Mechanismen wie Mikrozirkulation, Arginin-Stoffwechsel und endotheliale Dysfunktion vermittelte, legt der Konferenzvortrag den Fokus auf molekulare und immunologische Details.
Neu hinzu kommen unter anderem die funktionelle Einschränkung von CD8-T-Zellen, Hinweise auf eine abgeschwächte NK-Zell-Antwort, die Bedeutung vesikelgebundener mitochondrialer DNA bei der Auslösung neuroinflammatorischer Prozesse sowie eine Fallbeobachtung zur Immunaktivität unter Rituximab-Therapie.
Diese neuen Inhalte verdeutlichen, wie stark sich das wissenschaftliche Verständnis von PEM im letzten Jahr weiterentwickelt hat – von der primären Betrachtung gestörter Gefäß- und Energiemechanismen hin zu einem komplexeren Modell, das auch systemische Immunprozesse und zentrale neuronale Fehlregulationen einbezieht.
8. Quellen
- Puta, C. (2025). Mechanisms of Post-Exertional Malaise (PEM) – Vortrag auf der International ME/CFS Conference 2025: Understand, Diagnose, Treat, Berlin, 12. Mai 2025.
- Haunhorst, S., Dudziak, D., Scheibenbogen, C., et al. (2025). Towards an understanding of physical activity-induced post-exertional malaise: Insights into microvascular alterations and immunometabolic interactions in post-COVID condition and ME/CFS. Infection, 53(1), 1–13. https://doi.org/10.1007/s15010-024-02386-8
- Fatigatio-Fachtagung 2024: Prof. Christian Puta: PEM Verstehen: Immunbiologische und physiologische Implikationen für körperliche Aktivität.