Der US-Forscher Jarred Younger hat erstmals mit einem modernen PET-Tracer ([^18F]-DPA-714) großflächige Aktivierung von Mikroglia, den Immunzellen des Gehirns, bei ME/CFS sichtbar gemacht. Die Ergebnisse wurden im August 2025 erstmals öffentlich vorgestellt, sind noch nicht peer-reviewed und gelten daher als vorläufig. Anders als MRT, das nur indirekt Entzündungsfolgen sichtbar macht, kann PET diese Prozesse direkt erfassen.
Ergebnis: Bei allen untersuchten ME/CFS-Betroffenen zeigte sich eine weitverbreitete, teils beidseitige Entzündung zentraler Funktionsknoten wie Insula, Precuneus, Parahippocampus, medialer orbitofrontaler Cortex, Amygdala und Thalamus. Diese Areale steuern Schmerz- und Körpersignale, Energiehaushalt, Kreislauf, Motivation, Handlungsantrieb und Selbstfokussierung.
Wichtig: Wenn Younger in diesem Zusammenhang von „Motivation“ oder „Drive“ spricht, bezieht er sich nicht auf psychologische Willenskraft, sondern auf neurobiologische Prozesse, die den Organismus in die Lage versetzen, Handlungen einzuleiten. „Self Focus“ beschreibt in diesem Kontext eine verstärkte Aufmerksamkeitslenkung auf innere Körpersignale, die bei ME/CFS pathologisch verstärkt sein kann.
Warum das wichtig ist:
Die Muster passen zum Sickness-Behaviour-Modell, einer biologischen Schutzreaktion, die Aktivität drosselt, um Energie für Heilprozesse zu sparen. Bei ME/CFS bleibt dieser Zustand chronisch aktiv. Das erklärt, warum schon geringe Belastung eine massive Verschlechterung (Post-Exertional Malaise) auslösen kann.
Bedeutung für die Forschung: Der neue PET-Tracer ist sensibler und hat eine längere Halbwertszeit als frühere radioaktive markierte Substanzen, wodurch die Daten klarer und verlässlicher sind. Das könnte helfen, widersprüchliche Studien zu klären und einen diagnostischen Biomarker für ME/CFS zu entwickeln.
Ausblick: Die gezielte Behandlung von Neuroinflammation könnte ein neuer Therapieansatz werden. PET-Bildgebung könnte künftig zeigen, ob eine Behandlung wirkt. Mehr zu Methoden, Befunden und klinischer Bedeutung im ausführlichen Artikel.
1. Einleitung
1.1 Hinweis zum Status der Studie
Die hier dargestellten Daten sind vorläufig. Sie wurden von Jarred Younger im August 2025 erstmals in einer öffentlichen Videopräsentation vorgestellt, sind noch nicht peer-reviewed und bislang nicht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht. Die Interpretation der Ergebnisse sollte daher als Zwischenstand verstanden, jedoch nicht unterschätzt werden, zumal Younger nur dann an die Öffentlichkeit tritt, wenn er sich seiner Resultate sicher ist.
1.2 Hintergrund zu ME/CFS und Neuroinflammation
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist eine häufig postinfektiös auftretende, schwere Multisystemerkrankung mit ausgeprägten körperlichen und kognitiven Einschränkungen. Wachsende Evidenz weist auf eine zentrale Rolle der Neuroinflammation hin – entzündliche Prozesse im Gehirn, vermittelt vor allem durch aktivierte Mikroglia, aber auch durch aktivierte Astrozyten, die über das Translokatorprotein (TSPO) bildgebend erfasst werden können.
Unter physiologischen Bedingungen überwachen Mikroglia das Gewebe, entfernen Zelltrümmer und unterstützen neuronale Netzwerke. Bei chronischer Aktivierung setzen sie proinflammatorische Zytokine frei, stören die synaptische Signalübertragung und können funktionelle Netzwerke dauerhaft verändern. Klinisch äußert sich dies unter anderem als Fatigue, kognitive Verlangsamung, sensorische Überempfindlichkeit und autonome Dysfunktion.
1.3 Ziel der PET-Studie
Jarred Younger fasst die zentrale Erkenntnis so zusammen:
“It is safe to say that the ME/CFS brain is an inflamed brain.”
„Es lässt sich sicher sagen, dass das ME/CFS-Gehirn ein entzündetes Gehirn ist.“
Ziel der Studie war der direkte bildgebende Nachweis einer weitverbreiteten Aktivierung von Mikroglia bei ME/CFS mittels moderner Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und dem hochspezifischen Radiotracer [18F]-DPA-714. Dies stellt einen methodischen Fortschritt gegenüber älteren Studien mit dem weniger spezifischen [11C]-(R)-PK11195 dar.
Dieser Ansatz ist bedeutsam, weil frühere PET-Studien widersprüchliche Ergebnisse lieferten: Nakatomi et al. (2014) berichteten über deutliche Neuroinflammation, während Raijmakers et al. (2021) keine entsprechenden Befunde fanden. Unterschiede in Tracer-Sensitivität, Kohortencharakteristik und Studienprotokoll erschweren die Vergleichbarkeit. Mit einem sensitiveren Tracer könnte Youngers Arbeit helfen, diese Kontroverse zu klären und die Rolle neuroinflammatorischer Prozesse im Symptombild von ME/CFS präziser zu bestimmen.
2. Methodik
2.1 PET-Bildgebung und Tracer
Die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) ermöglicht die Darstellung biochemischer und immunologischer Prozesse im lebenden Gehirn. Während die Magnetresonanztomographie (MRT) primär anatomische Strukturen abbildet, kann sie Entzündungen nur indirekt erfassen, etwa über strukturelle oder sekundäre Folgen wie Gewebeschwellung, Flüssigkeitseinlagerungen oder Läsionen. Die PET erlaubt demgegenüber die direkte Visualisierung spezifischer molekularer Zielstrukturen wie die Aktivierung von Mikroglia.
Für die Erfassung von Neuroinflammation werden Tracer eingesetzt, die an das Translokatorprotein (TSPO) binden. TSPO wird vor allem auf aktivierten Mikroglia, in geringerem Maß auch auf aktivierten Astrozyten, in erhöhter Dichte exprimiert und dient als indirekter Marker neuroinflammatorischer Aktivität.
In der vorliegenden Studie kam der moderne TSPO-Tracer [18F]-DPA-714 der zweiten Generation zum Einsatz. Er bietet gegenüber dem älteren [11C]-(R)-PK11195 folgende Vorteile:
- Höhere Spezifität für aktivierte Mikroglia
- Besseres Signal-zu-Rausch-Verhältnis, wodurch auch kleinere Entzündungsherde detektierbar sind
- Längere Halbwertszeit von Fluor-18 von etwa 110 Minuten im Vergleich zu etwa 20 Minuten bei Carbon-11, was präzisere Messungen sowie eine detaillierte Kartierung ermöglicht und die Abhängigkeit von der unmittelbaren Nähe zu einem Zyklotron reduziert
Bei TSPO-Liganden der zweiten Generation beeinflusst der Affinitätspolymorphismus rs6971 die Bindungsstärke. Für die Vergleichbarkeit ist eine Genotypisierung mit entsprechender Modellierung der Bindungsaffinität relevant.
2.2 Bezug zu früheren Studien
Die erste PET-Studie zu ME/CFS mit [11C]-(R)-PK11195 wurde 2014 von Nakatomi et al. veröffentlicht und zeigte erhöhte TSPO-Bindung in mehreren Hirnregionen. Eine spätere Untersuchung von Raijmakers et al. im Jahr 2021 fand dagegen keine Hinweise auf Neuroinflammation.
Diese widersprüchlichen Befunde lassen sich teilweise durch methodische Unterschiede erklären. Dazu zählen die Tracer-Generation, die Sensitivität des Messverfahrens, Unterschiede bei Ein- und Ausschlusskriterien sowie Analyse- und Auswertungsverfahren. Younger und Cort Johnson auf Health Rising betonen, dass [18F]-DPA-714 eine deutlich zuverlässigere Erfassung der Mikroglia-Aktivität erlaubt. Dies dürfte zu klareren und reproduzierbareren Ergebnissen führen.
2.3 Studiendesign
Untersucht wurden 29 Teilnehmende. Eine Gruppe hatte eine gesicherte ME/CFS-Diagnose nach gängigen klinischen Kriterien. Die andere Gruppe bestand aus gesunden Kontrollen.
Zur Minimierung von Störeinflüssen wurden Tageszeit, Ernährungsstatus und akute Infekte kontrolliert. Durch den direkten Gruppenvergleich ließen sich krankheitsspezifische Aktivierungsmuster identifizieren und Artefakte weitgehend ausschließen.
3. Zentrale Ergebnisse der Studie
3.1 Kernaussage von Jarred Younger
Jarred Younger fasst die Ergebnisse so zusammen:
“We’re seeing things in the front of the brain, we’re seeing issues in the back of the brain, we’re seeing a lot of things in between … this is a brain-wide issue. It’s safe to say that the ME/CFS brain is an inflamed brain.”
„Wir sehen Veränderungen vorne im Gehirn, hinten im Gehirn und vieles dazwischen, es handelt sich um ein flächendeckendes Problem. Es lässt sich sicher sagen, dass das ME/CFS-Gehirn ein entzündetes Gehirn ist.“
Die PET-Bildgebung zeigte bei allen untersuchten Patientinnen und Patienten mit ME/CFS eine weitverbreitete Aktivierung von Mikroglia. Diese ist nicht auf einzelne Regionen beschränkt, sondern folgt einem netzwerkartigen Muster, das mehrere funktionell verbundene Hirnareale gleichzeitig betrifft. Die besondere Rolle der Insula wird in Abschnitt 4.1 erläutert.
3.2 Verteilung der Entzündungsherde
- Bilaterale (beidseitige) Aktivierung: Insula, Precuneus, Parahippocampus, medialer orbitofrontaler Cortex
- Unilaterale (einseitige) Aktivierung: rechte Amygdala, rechter rostraler Gyrus frontalis medius, rechter posteriorer cingulärer Kortex, linker Hippocampus, linker Thalamus
Bedeutung der Befundverteilung:
- Bilaterale Veränderungen sind besonders gravierend, da keine Kompensationsmöglichkeit durch die Gegenseite besteht. In stark vernetzten Strukturen wie der Insula oder dem Precuneus führt dies zu stabileren und ausgeprägteren Funktionsausfällen.
- Unilaterale Veränderungen können asymmetrische Symptome verursachen, z. B. Dominanz einer Störung auf einer Körperhälfte oder veränderte lateralisierte kognitive Funktionen.
3.3 Interpretation im Netzwerkkontext
Cort Johnson hebt hervor, dass die Muster funktionell sinnvoll erscheinen:
- Insula: Integrationszentrum für sensorische und emotionale Signale, Schlüsselrolle bei Interozeption (Fähigkeit des Körpers, innere Zustände wahrzunehmen und zu verarbeiten) und autonomer Regulation.
- Precuneus: Teil des Default Mode Network (DMN, Netzwerk im Ruhezustand). Bei Dysfunktion verstärkter Aufmerksamkeitsfokus nach innen (engl. inward focus) und dauerhafte Präsenz negativer Körpersensationen.
- Parahippocampus: In anderen Erkrankungen mit Fatigue assoziiert; verstärkt über limbische Verbindungen Angst und vegetative Stressantworten.
- Medialer orbitofrontaler Cortex: Bewertet Handlungen und Belohnung (engl. reward). Entzündung reduziert Motivation und steigert empfundene Anstrengung.
- Amygdala: Kodiert Bedrohung und Angst; fördert Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit).
- Thalamus: Zentrale sensorische Umschaltstation; Entzündung beeinträchtigt Reizfilterung und Schlafarchitektur.
Dieses Zusammenspiel deutet auf ein chronisches postinfektiöses Sickness Behaviour (Krankheitsverhalten) hin. Es kommt zu biologischer Aktivitätsdrosselung, verstärktem Fokus auf Körpersignale und Energieeinsparung.
3.4 Zitat aus Johnsons Zusammenfassung
“Younger’s new study … used a more advanced radiotracer and found scads of neuroinflammation … enough for Younger to state that people with ME/CFS have inflamed brains.”
„Youngers neue Studie … verwendete einen fortschrittlicheren Radiotracer und fand massenhaft Hinweise auf Neuroinflammation … genug, dass Younger feststellen konnte, dass Menschen mit ME/CFS entzündete Gehirne haben.“
Johnson sieht hierin einen wesentlichen Schritt zur Aufklärung der pathophysiologischen Grundlagen und als mögliche Basis für objektive Biomarker in Diagnostik und Therapieentwicklung. Zur Einordnung der funktionellen Auswirkungen hilft ein Blick auf die Rolle der jeweils betroffenen Hirnregionen.
4. Bedeutung einzelner Gehirnregionen und ihre körperlichen Auswirkungen
4.1 Insula
Die Insula ist ein zentraler Integrationsknoten für sensorische Informationen, Emotionen und innere Körperzustände. Sie koordiniert, wie Schmerz, Temperatur und viszerale Signale wahrgenommen und bewertet werden. Eine beidseitige Entzündung kann zu einer Überempfindlichkeit gegenüber Schmerz- und Körpersignalen führen, also Hyperalgesie und Allodynie. Über die enge Verbindung zum autonomen Nervensystem kann eine chronische Überaktivierung Dysautonomie begünstigen, etwa veränderte Durchblutung in Extremitäten oder instabile Herzfrequenz. Dies verstärkt das Gefühl von Schwere, Muskelermüdung und ineffizienter Ressourcenverteilung. Johnson bezeichnet die Insula als Brücke zwischen inneren Körperzuständen und adaptiven physiologischen Reaktionen. Eine Entzündung hier könnte einen großen Teil der vegetativen und kognitiven Symptome erklären.
4.2 Precuneus
Der Precuneus ist Teil des Default Mode Network, DMN (deutsch: Netzwerk im Ruhezustand) und an Selbstwahrnehmung, innerer Aufmerksamkeit und Gedächtnis beteiligt. Entzündungen können zu kognitiver Verlangsamung, Aufmerksamkeitsproblemen und verstärkter Wahrnehmung negativer Körpersensationen führen. Die enge Anbindung an Insula und limbische Strukturen kann den inward focus, deutsch Aufmerksamkeitslenkung nach innen, verstärken und die Fähigkeit mindern, flexibel auf externe Reize zu reagieren.
4.3 Parahippocampus
Der Parahippocampus verknüpft sensorische Eindrücke mit Erinnerungen und bewertet diese emotional. Bilaterale Entzündung in diesem Areal wurde in anderen Erkrankungen mit Fatigue assoziiert. Über limbische Verbindungen kann er Stressreize stärker gewichten. Dies fördert eine dauerhafte Aktivierung der Stressachsen wie die Cortisolausschüttung und kann die orthostatische Toleranz verschlechtern.
4.4 Medialer orbitofrontaler Cortex
Diese Region bewertet Handlungen und die zu erwartende Belohnung, englisch reward. Bei Entzündung wird der Wert einer Handlung heruntergestuft. Das wirkt wie eine biologische Bremse. Bewegungsimpulse werden seltener ausgelöst, Muskelaktivierung erfolgt verzögert und ressourcenschonend. Younger ordnet diesen Effekt dem Sickness Behaviour, deutsch Krankheitsverhalten, zu. Eine ausführliche Einordnung dieses Modells erfolgt in Abschnitt 5.1.1.
4.5 Thalamus
Der Thalamus ist die zentrale Umschaltstation für sensorische Signale (außer dem Geruchssinn) und ist an der Schlaf-Wach-Regulation beteiligt. Eine Entzündung kann die Reizfilterung stören, Überempfindlichkeiten auslösen und die Schlafarchitektur beeinträchtigen. Dies erhöht den Grundenergieverbrauch und reduziert die nächtliche muskuläre Regeneration. Das Ergebnis ist eine höhere Grundmüdigkeit am Folgetag.
4.6 Amygdala
Die Amygdala steuert emotionale Reaktionen auf Bedrohung und ist eng mit vegetativen Stressreaktionen verknüpft. Eine einseitige Entzündung in der rechten Amygdala kann Hypervigilanz und verstärkte Angstreaktionen auslösen. Dies steigert Muskelgrundspannung, erhöht den Energieverbrauch und kann die Regeneration beeinträchtigen. Langfristig trägt dies zu chronischem Energiemangel bei.
Die folgende Einordnung stellt die gemessenen Muster in den Kontext der Pathophysiologie und der klinischen Erfahrung.
5. Wissenschaftliche Interpretation der Befunde
5.1 Sicht von Jarred Younger
Younger bewertet die PET-Daten als bislang eindeutigsten bildgebenden Nachweis für eine großflächige, krankheitsspezifische Neuroinflammation bei ME/CFS. Die Mikroglia-Aktivierung ist nicht lokal begrenzt, sondern netzwerkartig über das gesamte Gehirn verteilt. Dieses brain-wide issue, deutsch flächendeckendes Problem im Gehirn, betrifft mehrere funktionell verbundene Areale, die an Körperwahrnehmung, kognitiver Steuerung, emotionaler Verarbeitung und vegetativen Regelkreisen beteiligt sind.
Younger sieht in der Ausbreitung der Entzündungsaktivität einen entscheidenden Hinweis darauf, warum ME/CFS so viele Symptome gleichzeitig hervorruft. Er betont, dass der verwendete PET-Tracer [18F]-DPA-714 ein deutlich klareres und verlässlicheres Signal liefert als frühere Studien mit weniger spezifischen Tracern. Damit lassen sich methodische Artefakte weitgehend ausschließen. Die Aktivierungsmuster traten bei allen untersuchten Betroffenen konsistent auf. Dies ist ein starkes Indiz für eine krankheitsspezifische Signatur, die die neuroimmunologische Grundlage der Erkrankung untermauert.
5.1.1 Terminologie und Fehlinterpretationen
Begriffe wie motivation, drive und self-focus, (deutsch Motivation, Antrieb und Selbstfokussierung), die Younger zur Beschreibung betroffener Netzwerke verwendet, sind neurobiologisch zu verstehen. Sie beschreiben die Fähigkeit des Gehirns, Handlungsimpulse zu erzeugen, Energie in Aktivitäten zu lenken, Aufmerksamkeit zu steuern und innere Körperzustände zu verarbeiten. Im Alltag werden diese Begriffe jedoch oft psychologisch oder wertend interpretiert.
Die PET-Daten zeigen hingegen objektive, immunologisch bedingte Aktivitätsmuster, die unabhängig von Willenskraft oder psychischer Einstellung entstehen. Diese Befunde passen in das Sickness-Behaviour-Modell, deutsch Krankheitsverhalten, eine evolutionär verankerte, entzündungsgetriebene Schutzreaktion. Das Sickness Behaviour ist ein durch Entzündungsmediatoren gesteuertes Programm, das bei akuten Infektionen oder Verletzungen aktiviert wird, um Energieverbrauch zu senken, Aktivität zu reduzieren und Ressourcen auf Heilungsprozesse zu konzentrieren. Typische Merkmale sind Fatigue, sozialer Rückzug, verminderter Antrieb, reduzierte Nahrungsaufnahme und eine verstärkte Fokussierung auf Körpersymptome.
Bei gesunden Menschen klingt dieser Zustand mit dem Abklingen der Entzündung wieder ab. Bei ME/CFS bleibt er jedoch chronisch aktiviert, ausgelöst und aufrechterhalten durch persistente neuroinflammatorische Signale. Das führt zu einer dauerhaften Drosselung körperlicher und kognitiver Aktivität, unabhängig von Motivation oder Willenskraft. Chronisch aktivierte Mikroglia setzen proinflammatorische Zytokine frei, die über neuronale und hormonelle Signalwege den Energiestoffwechsel beeinflussen.
Dies kann die Mitochondrienfunktion hemmen, die Muskelkraft reduzieren, die Blutdruck- und Herzfrequenzregulation stören und das vegetative Nervensystem in einen dauerhaften Energiesparmodus versetzen. Die Folge ist eine unwillkürliche Aktivitätsdrosselung mit schnellerer muskulärer Ermüdung, verringerter Durchblutung peripherer Gewebe und reduzierter Fähigkeit, Energiereserven zu mobilisieren.
5.2 Sicht von Cort Johnson
Johnson betont, dass die Studie nicht nur wegen der klaren Befunde, sondern auch wegen der überlegenen Methodik einen Durchbruch darstellt. Der Radiotracer [18F]-DPA-714 besitzt eine höhere Spezifität und Sensitivität für aktivierte Mikroglia als ältere Tracer wie [11C]-(R)-PK11195. Youngers Daten könnten helfen, die widersprüchlichen Ergebnisse früherer PET-Studien zu klären und eine Grundlage für diagnostische Biomarker zu schaffen, die künftig sowohl Diagnosen absichern als auch Therapieeffekte messbar machen.
5.3 Einschätzung von #MillionsMissing Deutschland
#MillionsMissing Deutschland weist erneut darauf hin, dass Begriffe wie motivation, drive oder self-focus (deutsch Motivation, Antrieb oder Selbstfokussierung) ohne präzise Einordnung leicht fehlinterpretiert werden. Ohne Kontext kann der Eindruck entstehen, es gehe um mangelnde Motivation oder die psychische Einstellung der Betroffenen. Die PET-Befunde legen jedoch nahe, dass immunologisch bedingte Funktionsstörungen vorliegen, die unabhängig von Willenskraft entstehen.
Diese können die Steuerung des autonomen Nervensystems, den Energiestoffwechsel inklusive mitochondrialer ATP-Produktion sowie die motorische Aktivierung beeinträchtigen. Das Resultat sind messbare Einschränkungen der muskulären Belastbarkeit, schnelle Ermüdung und eine zentral gesteuerte Aktivitätsreduktion als Schutzreaktion, die Energie für essenzielle Körperfunktionen reserviert.
5.4 Bedeutung bilateraler und unilateraler Befunde
- Bilaterale Aktivierung: zum Beispiel in Insula, Precuneus oder Parahippocampus, weist auf symmetrische Störungen zentraler Integrationsknoten hin. Dies hat potenziell tiefgreifende Auswirkungen auf Kreislauf-, Temperatur- und Schmerzregulation.
- Unilaterale Befunde: zum Beispiel in der rechten Amygdala, im rechten posterioren cingulären Kortex oder im linken Thalamus, können spezifische, asymmetrische Symptome auslösen, etwa verstärkte Stressreaktionen oder einseitig ausgeprägte Störungen der Reizfilterung.
6. Klinische Relevanz der Befunde
Die in Youngers PET-Studie identifizierten entzündlich aktiven Hirnregionen bilden ein funktionell vernetztes System, das Körperwahrnehmung, kognitive Kontrolle, emotionale Bewertung und vegetative Regulation koordiniert. Werden diese Netzwerke durch eine chronische Mikroglia-Aktivierung gestört, betrifft dies den gesamten Organismus. Das entspricht dem in Abschnitt 5.1.1 erläuterten Sickness-Behaviour-Modell, das bei ME/CFS dauerhaft bestehen kann.
6.1 Direkte körperliche Auswirkungen
- Autonome Regulation: Fehlgesteuerte Signale aus Insula, Thalamus und medialem orbitofrontalen Cortex können Herzfrequenz, Blutdruck und Kreislaufstabilität beeinträchtigen. Es kommt zu orthostatischer Intoleranz und plötzlichen Schwächeepisoden.
- Energiebereitstellung: Entzündungssignale aus dem zentralen Nervensystem können die Mitochondrienfunktion hemmen und den ATP-Stoffwechsel drosseln. Das führt zu verringerter Muskelenergie schon bei geringer Belastung.
- Motorische Aktivierung: Beeinträchtigungen in bewegungsvorbereitenden Arealen verlangsamen und erschweren motorische Programme. Es kommt zu rascher muskulärer Ermüdung und verlangsamten Bewegungsabfolgen.
6.2 Zusammenhang mit Post-Exertional Malaise (PEM)
Die durch Neuroinflammation ausgelöste Fehlregulation erzeugt eine überproportionale Belastungsantwort. Selbst geringe physische, kognitive oder sensorische Anforderungen können zu einer langanhaltenden Symptomverstärkung führen. Mehrere Mechanismen wirken zusammen: Erstens eine Überreaktion des zentralen Nervensystems auf Belastungssignale. Zweitens eine verstärkte Aktivierung von Immun- und Stressachsen. Drittens eine verminderte Energieproduktion in der Peripherie. Das Resultat ist ein systemischer Zusammenbruch der Funktionsfähigkeit, der Tage bis Wochen anhalten kann. Mehr zur Post-Exertional Malaise (PEM).
6.3 Bedeutung für den Alltag
Diese Prozesse erklären, warum Betroffene nicht einfach mehr trainieren oder ihre Aktivität willentlich steigern können. Forcierte Anstrengung kann den Entzündungszustand im zentralen Nervensystem verstärken und Symptome verschlimmern. Ein zentrales Element der Krankheitsbewältigung ist daher Pacing – die gezielte Steuerung und Begrenzung von Belastungen, um die individuelle Toleranzschwelle nicht zu überschreiten.
6.4 Einordnung durch #MillionsMissing Deutschland
#MillionsMissing Deutschland betont, dass die körperlichen Einschränkungen eine direkte Folge zentral gesteuerter Prozesse sind. Sie beruhen nicht auf Motivationsverlust oder psychischen Hemmnissen, sondern auf objektiv messbaren Funktionsstörungen im Gehirn. Betroffene schonen sich nicht freiwillig – der Körper wird durch neuroimmunologische Mechanismen gezwungen, Aktivität zu reduzieren, um lebenswichtige Grundfunktionen zu sichern.
7. Therapeutische Perspektiven
7.1 Potenzial einer gezielten Behandlung der Neuroinflammation
Younger sieht in der präzisen Lokalisierung der entzündlich aktiven Hirnregionen einen entscheidenden Fortschritt für künftige Therapien. Statt unspezifischer systemischer Behandlungen könnten gezielte Strategien entwickelt werden, die die Mikroglia-Aktivität in den am stärksten betroffenen Arealen modulieren. Johnson nennt als Beispiele Substanzen, die in anderen Indikationen mikroglia-modulierend wirken, darunter Minocyclin, Low-Dose-Naltrexon sowie Polyphenole wie Curcumin oder Resveratrol. Beide betonen, dass es bisher keine großen, kontrollierten klinischen Studien speziell zu ME/CFS gibt. Die Übertragung präklinischer Erkenntnisse ist daher vorläufig und erfordert methodisch saubere Wirksamkeits- und Sicherheitsprüfungen.
7.2 Innovative nichtinvasive Verfahren
Younger verweist auf die transkranielle fokussierte Ultraschallstimulation. Dieses Verfahren nutzt hochfrequente Ultraschallimpulse, die präzise auf tieferliegende Hirnregionen gerichtet werden können, um dort neuronale Aktivität und möglicherweise auch entzündliche Prozesse zu modulieren. Erste Studien aus anderen neurologischen Kontexten deuten auf eine Senkung von Entzündungsmarkern und eine Stabilisierung gestörter Netzwerkfunktionen hin. Für ME/CFS liegen bislang keine kontrollierten Untersuchungen vor. Die in der PET-Studie dokumentierte Entzündungsverteilung könnte künftig eine präzise Zielsteuerung ermöglichen.
7.3 Rolle der PET-Bildgebung in künftigen Therapiestudien
Johnson betont, dass Youngers PET-Daten die Möglichkeit eröffnen, Therapieeffekte objektiv zu messen. Eine Reduktion der Mikroglia-Aktivität ließe sich bildgebend dokumentieren, was die Aussagekraft klinischer Studien steigert. Vorteile ergeben sich in zweierlei Hinsicht: Erstens könnten potenziell wirksame Substanzen schneller identifiziert werden. Zweitens könnte die Diagnose ME/CFS stärker auf objektive Biomarker gestützt werden. Das erleichtert die medizinische Anerkennung und die versorgungspolitische Einordnung.
8. Fazit und Ausblick
8.1 Wissenschaftliche Bedeutung der Befunde
Nach Einschätzung von Johnson liefert Youngers Studie einen der bislang eindeutigsten bildgebenden Nachweise für eine weitverbreitete Neuroinflammation bei ME/CFS. Entscheidend war die Kombination aus hochauflösender PET-Bildgebung und dem modernen Radiotracer [18F]-DPA-714 mit höherer Sensitivität und Spezifität für aktivierte Mikroglia im Vergleich zu [11C]-(R)-PK11195. Die Befunde zeigen, dass mehrere funktionell zentrale Hirnregionen dauerhaft entzündlich aktiviert sind. Diese Aktivität ist nicht zufällig verteilt, sondern betrifft definierte Netzwerke, die Wahrnehmung, Energiehaushalt, Motivation, kognitive Kontrolle und vegetative Steuerung verbinden.
8.2 Offene Fragen und weiterer Forschungsbedarf
- Welche Mechanismen halten die Mikroglia-Aktivierung langfristig aufrecht?
- Welche Rolle spielen persistierende Infektionen, Autoimmunprozesse oder eine gestörte Blut-Hirn-Schranke?
- Sind die Entzündungsmuster in verschiedenen Krankheitsphasen stabil oder dynamisch?
Zur Klärung wären Längsschnittstudien mit wiederholten Messungen und größeren Kohorten nötig. Auch die Identifizierung von Subgruppen innerhalb der ME/CFS-Betroffenen könnte entscheidend sein, da nicht alle identische Muster aufweisen müssen.
8.3 Zusammenhang zu körperlichen Einschränkungen und PEM
Die Studie verdeutlicht, dass die bei ME/CFS beobachteten gravierenden körperlichen Einschränkungen direkt aus messbaren biologischen Prozessen im zentralen Nervensystem resultieren. Die betroffenen Hirnregionen steuern nicht nur kognitive und emotionale Funktionen, sondern auch vegetative Prozesse, die Muskelkraft, Kreislaufstabilität und Belastungstoleranz beeinflussen.
Diese Befunde lassen sich im Rahmen des Sickness-Behaviour-Modells verstehen. Dieses biologisch gesteuerte Programm wird bei akuten Infektionen oder Verletzungen aktiviert, um Energieverbrauch zu senken, Aktivität zu reduzieren und Heilungsprozesse zu fördern. Typische Merkmale sind Fatigue, sozialer Rückzug, verminderter Antrieb (biologisch begründet), reduzierte Nahrungsaufnahme und eine verstärkte Wahrnehmung von Körpersymptomen. Bei gesunden Menschen klingt dieser Zustand mit dem Ende der Entzündung wieder ab. Bei ME/CFS bleibt er jedoch chronisch bestehen, ausgelöst und aufrechterhalten durch anhaltende neuroinflammatorische Signale.
Das erklärt die Post-Exertional Malaise (PEM), die deutliche Verschlechterung aller Symptome nach bereits geringer körperlicher, kognitiver, emotionaler, orthostatischer oder sensorischer Belastung. Neuroinflammation kann hier eine Fehlregulation verursachen, bei der Belastungssignale übermäßig verstärkt werden und das Nervensystem in einen langanhaltenden biologischen Schutzmodus übergeht. Dieser Zustand reduziert die Fähigkeit zur Energiebereitstellung, drosselt die Muskelkraft, stört die Regulation von Kreislauf und Herzfrequenz und erhöht die Anfälligkeit für eine erneute Symptomverstärkung. Eine ausführliche neuroimmunologische Einordnung findet sich in Abschnitt 5.1.1.
8.4 Chancen für die zukünftige Behandlung
Sollten sich die Befunde in größeren Studien bestätigen, könnte PET-Bildgebung künftig nicht nur in der Forschung, sondern auch als diagnostisches Hilfsmittel eingesetzt werden. Die Möglichkeit, Mikroglia-Aktivität objektiv zu messen, eröffnet den Weg zu pathogeneseorientierten Therapien anstelle rein symptomorientierter Ansätze. Das würde bedeuten, dass zukünftige Behandlungen gezielt auf die Reduktion der zugrunde liegenden Neuroinflammation abzielen. Dies wäre ein entscheidender Schritt hin zu einer wissenschaftlich fundierten, ursachenorientierten Versorgung und zur Überwindung der Fehlinterpretation von ME/CFS als primär psychologische Störung.
Fazit: Youngers Arbeit markiert einen methodischen Meilenstein und rückt ME/CFS klar in den Kontext einer nachweisbaren neuroimmunologischen Erkrankung mit Konsequenzen für Forschung, Diagnostik und Versorgung.
9. Quellennachweis
- Younger, J. (2025, August). 067 – New results: The ME/CFS brain is inflamed. Video-Präsentation, University of Alabama at Birmingham. YouTube.
- Johnson, C. (2025, 7. August). Jarred Younger finds a VERY inflamed brain in ME/CFS. Health Rising.
- Nakatomi, Y., Mizuno, K., Ishii, A., Wada, Y., Tanaka, M., Tazawa, S., Onoe, K., Fukuda, S., Kawabe, J., Takahashi, K., Kataoka, Y., Shiomi, S., Yamaguti, K., Inaba, M., Kuratsune, H., Watanabe, Y. (2014). Neuroinflammation in Patients with Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic Encephalomyelitis: An ¹¹C-(R)-PK11195 PET Study. J Nucl Med, 55(6), 945–950. doi: 10.2967/jnumed.113.131045.
- Raijmakers, R., Roerink, M., Keijmel, S., Joosten, L., Netea, M., van der Meer, J., Knoop, H., Klein, H., Bleeker-Rovers, C., Doorduin, J. (2021). No Signs of Neuroinflammation in Women With Chronic Fatigue Syndrome or Q Fever Fatigue Syndrome Using the TSPO Ligand [11C]-PK11195. Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm, 9(1), e1113. doi: 10.1212/NXI.0000000000001113.