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Jens Spahn, wir müssen reden!

Offener Brief an Jens Spahn – Gesundheitsminister der Bundesrepublik Deutschland

Auch als Videobotschaft | #MillionsMissing Deutschland Protest am 23.05.2019 – 70 Jahre Grundgesetz


Herr Minister Jens Spahn, wir müssen dringend reden, besonders weil Sie uns bislang erfolgreich ignoriert haben! 

Mein Name ist Dorothée Hagenstein, ich bin seit 1998 an ME/CFS erkrankt und Mitglied bei #MillionsMissing Deutschland. Wir stehen heute am 23. Mai 2019 gemeinsam vor dem Bundestag. 70 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes. 

 

Artikel 1 besagt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«, also auch Ihre. Dies steht im eklatanten Widerspruch zu der prekären Situation von circa 240.000 ME/CFS betroffenen Kindern und Erwachsenen in Deutschland. 

 

Unsere Krankheit ME/CFS ist in der Gesellschaft, der Politik und bei Ärzten immer noch weitgehend unbekannt, deshalb müssen wir aufklären. Sie gehört zu den am wenigsten erforschten und am häufigsten missverstandenen Krankheiten unserer Zeit, mit der niedrigsten Lebensqualität. ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis, auf Deutsch: Gehirn- und Rückenmarksentzündung mit Muskelbeteiligung, auch bekannt als Chronisches Fatigue Syndrome. Sie ist schon seit 1969 von der WHO als schwere, neuroimmunologische Krankheit, ICD G93.3, anerkannt. 

Wieso noch nicht in Deutschland? 

 

Die Multisystemerkrankung ME/CFS, die oftmals nach einem Infekt beginnt, führt zu einem hohen Grad an Behinderung, der ein normales Berufs- und Privatleben unmöglich macht.  70 % der Betroffenen mussten aufgrund von ME/CFS ihre früheren Berufe aufgeben, unter anderem auch ich. Eigentlich bin ich Politiklehrerin und würde nichts lieber tun, als in die Schule zurückzugehen, um meinen geliebten Beruf wieder ausüben zu dürfen. 25 % der Erkrankten sind seit Jahren ans Haus oder Bett gebunden, einige davon sind sogar 24 Stunden pro Tag ans Bett gefesselt, liegen in dunklen Räumen, müssen teilweise künstlich ernährt werden und sind so schwach, dass ihnen keinerlei Teilhabe an der Gesellschaft mehr möglich ist. 

 

Als ME/CFS Patient hat man langwierige und kräftezehrende Kämpfe für den Grad der Schwerbehinderung, Pflegestufe, mit Krankenkassen und der Verrentung hinter sich. Man ist gesellschaftlich isoliert, stigmatisiert, weil die Krankheit, zumindest im Anfangsstadium, nicht sofort sichtbar ist. Zudem wird sie teilweise noch als psychosomatisch eingestuft und somit von Ärzten falsch behandelt, mit fatalen Folgen! Als Betroffener wird man mit seinen Angehörigen, sofern man diese noch hat, bei der Bewältigung dieser Krankheit völlig allein gelassen. Besonders schlimm ist es, wenn es sich dabei um Kinder und Jugendliche handelt, die eigentlich noch ihr ganzes Leben vor sich haben. 

 

Die Erkrankten stehen oftmals trotz jahrelangem Ärztemarathon ohne Diagnose, ärztliche Versorgung, zugelassene Medikamente und finanzielle Absicherung da. Bei mir hat es z.B. 18 Jahre gedauert, bis ich an der Charité in Berlin 2016 die Diagnose ME/CFS erhielt. Einige von uns sind hoch verschuldet, da Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente für die Linderung der Symptome von den Krankenkassen nicht übernommen werden. Sowohl unsere Regierung als auch das Gesundheitssystem haben bislang die existentielle Notlage der ME/CFS Erkrankten nicht erkannt. 

 

Wie kann so etwas im Jahr 2019 in Deutschland überhaupt noch möglich sein? Dass Menschen sich aufgrund der Missstände aus lauter Verzweiflung heraus nach einem jahrelangen Leidensweg sogar das Leben nehmen müssen?

 

Das ist der eigentliche Skandal! 

 

Diese Missstände können wir nicht länger hinnehmen, wir müssen unseren Kampf öffentlich sichtbar machen, selbst wenn wir dafür immer wieder eine massive Zustandsverschlechterung hinnehmen müssen. 

 

Nach dem Protesttag am 12. Mai vorm Brandenburger Tor, zu dem Sie alle eingeladen waren, sind viele von uns zusammengebrochen und haben sich von der Überanstrengung noch nicht wieder erholt. Stellvertretend für sie haben wir symbolisch die Schuhe der #MillionsMissing vom Brandenburger Tor zum Bundestag getragen. 

Gemeinsam mit ihnen vom Bett aus fordern wir erneut Anerkennung, Fortbildung für Ärzte, Versorgung und Forschung! Dieses kann nicht ohne Gelder der Regierung stattfinden. 

 

Wir werden nicht eher schweigen, bis unsere Hilferufe auf unterschiedlichen Kanälen endlich gehört werden, wir ernst genommen werden und uns geholfen wird. Denn auch unsere Würde ist unantastbar. An dieser Stelle sind wir froh, dass wir am 12. Mai zumindest ein Grußwort der Grünen bekamen und bald Gespräche im Bundestag mit der SPD und via Skype mit der CSU stattfinden werden, ein erster Schritt in die richtige Richtung! 

 

Herr Jens Spahn, unser dringender Appell richtet sich an Sie und ihr Ministerium. Bitte befassen Sie sich mit unserer verzweifelten Situation. 

 

Wann haben Sie Zeit? Wir müssen reden! 

 

Herzlichen Dank für Ihre Gesprächsbereitschaft!