ME | Historisches | Prävalenz | Symptome | Krankheitsverlauf und Schweregrad | Ätiopathogenese | Diagnose | Therapie | Situation | Weitere Informationen | Anlaufstellen
Myalgische Enzephalomyelitis (ME), auch bekannt unter dem Namen Chronic Fatigue Syndrome (CFS) oder ME/CFS, ist eine erworbene, schwere chronische Multisystemerkrankung, die oft mit einem hohen Grad der körperlichen Behinderung einhergeht und bis zur vollständigen Bettlägerigkeit führen kann.1 Im weiteren Text wird die Abkürzung »ME« verwendet.
ME tritt meist akut im Zuge eines Infekts (z. B. Pfeiffersches Drüsenfieber), aus völliger Gesundheit heraus auf, aber auch schleichende Verläufe sind bekannt.2 Seit 1969 stuft die WHO ME als neurologische Erkrankung ein und klassifiziert diese in der ICD-10 unter G93.3.3
ME ist keine »moderne« Erkrankung, sondern wird seit fast 90 Jahren in der medizinischen Literatur beschrieben. Sie kann sporadisch oder in Clustern auftreten. Zum ersten Mal registriert wurde diese Krankheit während eines Ausbruchs 1934 in Los Angeles, der einer atypischen Poliomyelitis ähnelte.4 Bis in die 1980er Jahre kam es weltweit an verschiedenen Orten zu ähnlichen Ausbrüchen. Zu den bekanntesten zählen die Massenausbrüche am Royal Free Hospital in London 1955 und am Lake Tahoe in Nevada 1984.
Der Name »Myalgische Enzephalomyelitis« wurde nach dem Ausbruch am Royal Free Hospital von Dr. Melvin Ramsay eingeführt und 1959 erstmals als Krankheitsentität beschrieben. In den Achtzigern veröffentlichte Dr. Ramsay Diagnosekriterien für ME.
Nach dem Ausbruch am Lake Tahoe wurde die verharmlosende Bezeichnung »Chronic Fatigue Syndrom« 1988 mit den Holmes-Kriterien eingeführt. 1994 wurde CFS mit den Fukuda-Kriterien neu definiert. Die Mehrheit der Forschung zu ME bzw. CFS beruht in den letzten zwei Jahrzehnten auf den Fukuda-Kriterien. Diese stehen jedoch in der Kritik zu heterogene Patientenkohorten zu selektieren, u. a. weil das Kardinalsymptom – die Post-Exertional Malaise – nicht zwingend ist, und damit effektive Forschung und akkurate Diagnosestellung verhindert wurde. Vor dem Hintergrund dieser Kritik wurden die Kanadischen Konsenskriterien (2003) und die aus ihnen hervorgegangen Internationalen Konsenskriterien (2011) von einer Gruppe von Wissenschaftlern entwickelt. In diesen beiden Diagnosekriterien ist das Kardinalsymptom ein zwingend notwendiges Kriterium.
Internationale Prävalenzstudien gehen davon aus, dass ca. 0,2–0,4 % der Gesamtbevölkerung an ME leiden.5 In Deutschland gibt es schätzungsweise 250.000 Betroffene.6 Weltweit leiden rund 17 Mio. Menschen an ME. Damit ist ME keine seltene Erkrankung.
Es wird vermutet, dass bis zu 90 % nicht oder falsch diagnostiziert sind.7 Frauen erkranken häufiger als Männer.8 Am häufigsten bricht die Erkrankung zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr aus.9 Aber auch Kinder können an ME erkranken.10
Symptome nach den Kanadischen Konsenskriterien (CCC):11, 12
ME/CFS-Betroffene leiden an einer anhaltenden oder wiederkehrenden körperlichen und geistigen Erschöpfung neuen Ausmaßes, die sich nicht durch Anstrengung erklären lässt und das Aktivitätsniveau erheblich einschränkt.
Das Kardinalsymptom ist die sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM). Darunter versteht man die Verschlechterung der Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung sowie den Verlust von körperlicher und mentaler Kraft, eine schnelle muskuläre und kognitive Entkräftung und/oder Schmerzen. Die Regeneration ist verlangsamt, meist 24 Stunden oder länger.
Zentrale Symptome sind zudem Schlafstörungen und Schmerzen. Betroffene leiden an einem nicht erholsamen Schlaf oder einem gestörten Schlafrhythmus. Schmerzen können in den Muskeln und/oder Gelenken auftreten und sind häufig sehr ausgedehnt und wandernder Natur. Oft treten erhebliche Kopfschmerzen eines neuen Typs, Musters und Schweregrades auf.
Betroffene sollten weiterhin mindestens zwei Symptome neurologischer/kognitiver Manifestation aufweisen wie u. a. Konzentrationsstörungen, Geräusch- oder Lichtempfindlichkeit oder Ataxien (Störungen der Bewegungskoordination).
Des Weiteren müssen Betroffene ein oder mehrere Symptome aus zwei der folgenden Bereiche aufweisen: autonomes Nervensystem, neuroendokrines System oder Immunsystem. Symptome des autonomen Nervensystems sind u. a. orthostatische Intoleranz, Herzrasen oder Benommenheit. Zu Symptomen des neuroendokrinen Systems zählen z. B. subnormale Körpertemperatur, kalte Extremitäten oder Intoleranz gegenüber extremer Hitze und Kälte. Symptome des Immunsystems sind u. a. geschwollene Lymphknoten, wiederkehrende Halsschmerzen oder grippeähnliche Symptome.
Die Beschwerden sollten länger als 6 Monate anhalten (bei Kindern 3 Monate). Eine frühere Diagnose ist möglich. Der Beginn ist meist plötzlich, aber auch schleichende Verläufe sind bekannt.
Mit den 2011 erschienenen Internationalen Konsenskriterien (ICC), die aus den Kanadischen Konsenskriterien hervorgehen und in weiten Teilen übereinstimmen, wurde das Kardinalsymptom – die Post-Exertional Malaise – als Alleinstellungsmerkmal für ME differenzierter herausgearbeitet. In den überarbeiteten Kriterien wird von Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion (PENE) gesprochen, d. h. die Betroffenen leiden an einer neuro-immunen Entkräftung nach geringfügiger Belastung. Es besteht eine pathologische Unfähigkeit genügend Energie nach Bedarf zu produzieren.13
ME ist eine Erkrankung, die unterschiedliche Verlaufsformen und Schweregrade, von mild bis sehr schwer, annehmen kann. Je schwerer die Erkrankung, desto niedriger ist auch die Belastungsschwelle, die zu einer Zustandsverschlechterung führt.
Mild Erkrankte können ggf. noch arbeiten, aber haben z. B. nicht mehr die Möglichkeit ihren Hobbys nachzugehen oder Sozialkontakte zu pflegen. Für moderat Erkrankte reicht die Kraft meist nicht mehr zum Arbeiten aus. Selbst die Verrichtung des eigenen Haushalts kann zu einer großen Herausforderung werden. Schwer Erkrankte sind überwiegend bettlägerig. Selbst der Gang ins Bad kann schon zu einer schweren Zustandsverschlechterung führen. Schwerst Erkrankte sind bettlägerig und komplett pflegebedürftig. Diese Patienten liegen oft
aufgrund starker Lichtempfindlichkeit im Dunkeln, können teilweise nicht mehr sprechen und müssen mitunter künstlich ernährt werden.
Man geht davon aus, dass 25 % der Betroffenen ans Haus oder Bett gebunden sind.14 Über 60 % können nicht mehr arbeiten.15 Die Krankheit verläuft meist chronisch, in seltenen Fällen sogar progressiv. Eine vollständige Erholung ist selten.16 In den meisten Fällen bleiben die Patienten in ihrer Lebensführung schwer beeinträchtigt.
Die Lebensqualität von ME/CFS-Erkrankten ist Studien zufolge oft niedriger als die von Multiple Sklerose-17, Schlaganfall- oder Lungenkrebspatienten.18
Obwohl Wissenschaftler viele biomedizinische Anomalien bei ME-Patienten dokumentiert haben, ist die genaue Ätiologie und Pathogenese der Erkrankung bis heute nicht geklärt. Fraglich ist auch, ob es sich bei ME um ein homogenes Krankheitsbild handelt oder ob sich dahinter verschiedene Subtypen verbergen.
Neuere Studien zeigen, dass bei einem Teil der ME-Patienten eine mögliche Autoimmunerkrankung zugrunde liegen könnte.19, 20
Weiterhin finden sich in jüngster Zeit vermehrt Hinweise darauf, dass bei ME-Patienten schwere Störungen im Energiestoffwechsel vorliegen.21, 22 Als Auslöser werden z. B. virale Infektionen, wie das Epstein-Barr-Virus (EBV) diskutiert.23
Wir berichten regelmäßig auf #MillionsMissing4Science über neuste wissenschaftliche Beiträge und Studien. Auch die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS informiert auf ihrer Webseite regelmäßig über den aktuellen Stand der Wissenschaft. Mehr unter mecfs.de/aktuelles/.
Es gibt bisher keinen eindeutigen Biomarker, der die Krankheit diagnostiziert. Die Diagnose wird per Ausschluss und anhand etablierter klinischer Kriterienkataloge gestellt.24
Präzise und universell geltende Diagnosekriterien – gerade bei Erkrankungen unbekannter Ätiologie – sind sowohl für die Klinik als auch für die Wissenschaft unabdingbar. Für die Praxis ist dies wichtig, um Patienten schnell und akkurat diagnostizieren zu können. Für die Wissenschaft ist dies relevant, um aussagekräftige und reproduzierbare Ergebnisse erzielen zu können.
Ein Grund für den mangelnden Erfolg in der Erforschung von ME bzw. CFS liegt darin, dass es für ME bzw. CFS viele unterschiedliche Diagnosekriterien gibt, die teilweise sehr weit gefasst sind und damit oft eine zu heterogene Patientengruppe selektieren und als Folge keine vergleichbaren und aussagekräftigen Forschungsergebnisse erzielen.
Die am häufigsten verwendeten Kriterien sind die Fukuda-Kriterien aus dem Jahr 1994. Diese stehen u. a. deshalb in der Kritik, da sie das Kardinalsymptom von ME/CFS – die Post-Exertional Malaise – nicht als zwingendes Kriterium voraussetzen.25
Daneben gibt es noch viele weitere Diagnosekriterien, deren Hauptkritik meist darin besteht, dass sie zu weit gefasst sind und das Kardinalsymptom – die PEM – nicht berücksichtigen.
Die jüngsten Diagnosekriterien sind aus dem Jahr 2015. Diese wurden vom Institute of Medicine (IOM) für die Verwendung in der klinischen Praxis vorgeschlagen.26 Die klinische Falldefinition des IOM steht u. a. deshalb in der Kritik, weil sie die meisten anderen Erkrankungen als komorbide und nicht als ausschließende Erkrankungen betrachtet.27 Die Falldefinition könnte demnach eine größere Patientengruppe einschließen, u. a. auch Patienten mit psychiatrischen Krankheitsbildern, die die IOM-Kriterien erfüllen könnten.28 Der IOM Bericht gibt zudem keine Antwort darauf, welche Diagnosekriterien in der Wissenschaft verwendet werden sollten.
Viele Wissenschaftler sind dazu übergegangen, die Kanadischen Konsenskriterien (CCC) aus dem Jahr 2003 zu verwenden, die PEM zwingend voraussetzen. Die CCC wurden sowohl für die medizinische Praxis als auch für die Wissenschaft entwickelt. Auch die Immundefekt-Ambulanz der Berliner Charité verwendet diese zu Diagnose- und Forschungszwecken.
Für ME gibt es bisher keine Heilung und auch kein für die Behandlung von ME zugelassenes Medikament.
ME-Patienten sind oft auf sich allein gestellt und versuchen mit Medikamenten und Therapien ihre individuellen Symptome zu lindern. Manche Betroffene erreichen eine Verbesserung mit medikamentösen Therapien im Off-Label-Use. Oft bleibt den Patienten nur das sogenannte Pacing. Aktivitäten, physische und / oder mentale, sollen nur bis zur
individuellen Belastungsgrenze ausgeführt werden, um einen Crash, die PEM bzw. PENE, zu vermeiden.29 Dieser Disease-Management Ansatz stößt aber insbesondere bei schwer und schwerst Erkrankten an seine Grenzen, da die Patienten oft schon mit der reinen Nahrungsaufnahme und der Körperpflege ihre individuelle Belastungsgrenze überschreiten.
Zudem gibt es viele, nicht immer kontrollierbare, Trigger wie z. B. Infekte, Narkosen, Operationen, Exposition gegenüber Chemikalien, die den Krankheitsverlauf beeinflussen können.
ME ist mit etwa 240.000 Betroffenen in Deutschland und ca. 17 Millionen weltweit keine seltene Erkrankung. In der Öffentlichkeit, aber auch unter Ärzten ist ME weitestgehend unbekannt oder wird oft fälschlicherweise als psychosomatische oder psychiatrische Erkrankung angesehen. Diese Verharmlosung bzw. Missinterpretation ist u. a. auch auf die Bezeichnung Chronic Fatigue Syndrome oder auf die irreführenden Bezeichnungen Chronisches Erschöpfungssyndrom / Chronisches Müdigkeitssyndrom, die häufig im deutschsprachigen Raum Verwendung finden, zurückzuführen.
Die Missinterpretation oder Unkenntnis von ME im Gesundheitssystem führt dazu, dass ME-Patienten über Jahre unzählige Ärzte konsultieren, die nicht in der Lage sind, sie zu diagnostizieren mit der Folge, dass eine adäquate medizinische Versorgung meist nur schwer zu erhalten ist und die Pflege häufig den Angehörigen überlassen wird.
Neben der fehlenden medizinischen Versorgung, verlieren viele ME-Patienten ihre finanzielle Absicherung, da ein Großteil der Patienten nicht mehr in der Lage ist zu arbeiten. ME-Patienten sehen sich vielfach abgelehnten Anträgen auf Sozialleistungen gegenüber und müssen häufig einen langwierigen Klageweg bestreiten um ihre Ansprüche durchzusetzen.
Bisher sind nur das Institut für Medizinische Immunologie der Berliner Charité, Frau Prof. Dr. med. Uta Behrends von der Kinderpoliklinik der Technischen Universität München und wenige Privatärzte mit dem Erkrankungsbild vertraut. Die Immundefekt-Ambulanz der Berliner Charité kann aufgrund des hohen Patientenaufkommens zurzeit nur Patienten aus der Region Berlin / Brandenburg annehmen. Die medizinische Versorgung ist daher katastrophal und für die Mehrheit der ME-Patienten schlichtweg nicht vorhanden. Auch angehende Mediziner können diese Versorgungslücke nicht schließen, weil ME an den Universitäten nicht oder nach veraltetem Wissen gelehrt wird.
Auch die Leitlinie «Müdigkeit» Nr. 053-002 der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM), die als Hilfestellung für Ärzte zur Entscheidungsfindung dienen soll, beruht nicht auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ohne belastbare Forschungsergebnisse empfiehlt die DEGAM weiterhin in ihrer aktuell veröffentlichten revidierten Fassung, dass Verhaltens- oder Aktivierungstherapie (CBT/GET) generell sinnvolle Behandlungsansätze darstellen.
Die DEGAM geht bei ME/CFS von einer psychosomatischen Erkrankung aus, obwohl es hinreichende wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass es sich bei ME/CFS um eine schwere körperliche Erkrankung handelt.
In ihrer revidierten Fassung räumt die DEGAM ein, dass die Literaturauswahl für das Kapital zum Chronischen Müdigkeitssyndrom (CFS) – so wörtlich – »selektiv« sei und damit auf
eine Leitlinie i. e. S. verzichtet würde. Dieser Passus in der revidierten Fassung ist der Intervention der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS zu verdanken, die sich vorzeitig aus dem
Überarbeitungsprozess der Leitlinie Müdigkeit zurückgezogen hat, nachdem ihre Kritikpunkte von der DEGAM nicht erhöht wurden und Beschwerde bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen
Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) eingelegt hat, um auf die methodischen, inhaltlichen und prozeduralen Schwächen der Leitlinie Müdigkeit hinzuweisen.
Die DG für ME/CFS begrüßt, dass die DEGAM das Kapital zum CFS nicht als belastbare Handlungsempfehlung verstanden wissen will und sich somit weder praktizierende Ärzte noch Gutachter oder Amtsärzte darauf berufen können. Sie hält aber weiterhin an ihrer berechtigten Kritik fest, dass das Kapital nicht den aktuellen Stand der Wissenschaft widerspiegelt. Die ausführliche Stellungnahme der DG für ME/CFS kann hier nachgelesen werden.
Am 5. März 2020 fand das erste Parlamentarische Fachgespräch über ME/CFS im Bundestag auf Einladung von Martina Stamm-Fibich, Patientenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied des Gesundheitsausschusses, statt. Die Patienteninitiativen Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und #MillionsMissing Deutschland waren an der Organisation des Fachgesprächs „ME/CFS-Versorgung in Deutschland – Potenziale nutzen, Versorgung verbessern“ beteiligt. Zum erste Mal wurden Akteure aus vielen wichtigen Bereichen an einen Tisch gebracht: Bundestagsabgeordnete der Fraktionen SPD, CDU/CSU sowie Bündnis 90/Die Grünen, Vertreter der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, des Bundesministeriums für Gesundheit sowie der Deutschen Rentenversicherung Bund, Wissenschaftler und Vertreter der Patientenorganisationen Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, #MillionsMissing Deutschland, Fatigatio e.V. und Lost Voices Stiftung. Ziel ist, die desaströse Versorgungslage für Betroffene zu verbessern. Mehr darüber hier.
Behandlungsempfehlungen, wie die kognitive Verhaltenstherapie (Cognitive Behavioural Therapy – CBT) und die ansteigende Bewegungstherapie (Graded Exercise Therapy – GET), sind dagegen nicht wirksam. Sie beruhen meist auf dem Gedanken, dass es sich bei ME um keine organische Erkrankung handelt, sondern dass die Symptome durch die Vermeidung von Aktivitäten, beruhend auf einer falschen Krankheitsüberzeugung, und daraus resultierender reversibler Dekonditionierung aufrecht erhalten werden. Kognitive Verhaltenstherapie hat, wie bei allen schweren organischen Erkrankungen, ihre Berechtigung, wenn es darum geht, den Patienten in
der Bewältigung seiner Erkrankung zu unterstützen, soweit es das bedarf.
Therapien, die jedoch darauf abzielen, den Patienten von seiner vermeintlich falschen Krankheitsüberzeugung abzubringen und ansteigende Bewegungstherapie sind kontraindiziert. Gerade letzterer Ansatz führt nicht zu einer Verbesserung der Symptomatik, sondern kann diese (irreversibel) verschlechtern.30 Obwohl gerade der GET-Ansatz international massiv in der Kritik steht, hält die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) dennoch an den Behandlungsempfehlungen fest.31
Die Empfehlung dieser Therapieansätze stützt sich auf die PACE-Trial, eine großangelegte Studie aus England, die 2011 im renommierten Journal »The Lancet« veröffentlicht wurde und u. a. untersucht, wie sich CBT und GET auf CFS-Patienten auswirkt.32 Nach Aussage dieser Studie sollen sich 60 % der Teilnehmer durch CBT und GET »verbessern« und 22 % »genesen«.33, 34
Die Studie wird von vielen Patienten, Ärzten und Wissenschaftlern weltweit dafür kritisiert, dass sie massive methodische Mängel aufweist, die zu der falschen Annahme führen, dass CBT und GET effektive und sichere Therapien bei ME seien.35 Die Rohdaten der PACE-Trial, die per Gericht eingefordert werden mussten, wurden von ME-Patienten und unabhängigen Wissenschaftlern aus den USA anhand des ursprünglichen Studienprotokolls neu ausgewertet. Nach dieser Reanalyse fiel die »Verbesserungsrate« für eine Behandlung mit CBT und GET von 60 % auf 20 %. Die »Genesungsrate« von 22 % fiel für CBT auf 7 % und für GET auf 4 %. Im Vergleich zu der Kontrollgruppe (Hausarztversorgung) waren die Ergebnisse damit nicht mehr statistisch signifikant.36
Trotz der massiven qualitativen Mängel und der nicht haltbaren Ergebnisse, wurde die PACE-Trial vom Herausgeber der medizinischen Fachzeitschrift »The Lancet« nicht zurückgenommen. Wissenschaftler und Organisationen haben den Herausgeber in offenen Briefen mehrfach dazu aufgefordert. Über hundert Wissenschaftler (u. a. von den Universitäten Harvard, Stanford, Berkeley, Columbia, Cornell, Yale) und Ärzte, 10 Mitglieder des britischen House of Commons sowie über 70
Patientenorganisationen, u. a. auch die Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, fordern in einem offenen Brief eine unabhängige statistische Neuauswertung der Daten der diskreditierten PACE-Studie.37
Die praktischen Auswirkungen von PACE – der mit fünf Millionen Pfund öffentlich finanzierten größten Studie, die es bisher zu ME gab, publiziert in einer der renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften der Welt – ist immer noch immens. Die Studie beeinflusst weltweit, obwohl ihre Ergebnisse nicht haltbar sind, offizielle Behandlungsempfehlungen, so auch die in der international einflussreichen NICE-Guideline.
Das National Institute of Health and Care Excellence (NICE) ist eine unabhängige öffentliche Einrichtung, das nationale Beratung und Anleitung sowie evidenzbasierte Empfehlungen zur Verbesserung der Gesundheits- und Sozialfürsorge in England anbietet. Die NICE-Guidline war u. a. Schwerpunkt der dreistündigen Debatte im Juni 2018 zum Thema »Myalgische Enzephalomyelitis – Behandlung und Forschung« in der Westminster Hall des britischen Parlaments. Sie wird derzeit grundlegend überarbeitet, behält aber bis 2020 in der alten Fassung ihre Gültigkeit. Darin werden noch kognitive Verhaltenstherapie und ansteigendes Training empfohlen. Mehrere Mitglieder des Parlaments legten dar, dass diese kontraindizierten Behandlungen nicht bis zum Abschluss der Überarbeitung 2020 in der Leitlinie wider besseren Wissens verbleiben können, allein aus dem Umstand heraus, dass in der Zwischenzeit Patienten durch diese Behandlungsempfehlungen zu Schaden kommen können und Gerichte ME-Patienten in Zukunft Entschädigung zusprechen könnten.38
In anderen Ländern ist man bereits viel weiter. Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA haben ihre Empfehlungen an den aktuellen Forschungsstand angepasst und CBT und GET als Behandlungsempfehlung zurückgenommen.39, 40
Der Niederländische Gesundheitsrat empfiehlt, dass GET keine zwingende Maßnahme sein darf und es dem Patienten freigestellt sein sollte, ob er
diese Therapie durchführen möchte oder nicht.41
Auch in England und Schottland fanden parlamentarische Debatten über die kaum vorhandene Versorgung und die fehlende
Forschung statt.
In Dänemark stimmte das Parlament 2019 u. a. dafür, ME/CFS als eigenständige organische Krankheit anzuerkennen und der WHO-Klassifikation zu folgen. Weitere Informationen zu den Inhalten der
Abstimmung sind hier nachlesbar.
Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V. hat in Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten des Institutes für Immunologie der Charité Informationen zu ME/CFS im Ärzteportal zusammengestellt. Medizinisches Fachpersonal erhält nach dem Login Informationen zu:
Charité Fatigue Centrum – Universitätsmedizin Berlin
CFS-Sprechstunde der Immundefektambulanz der Berliner Charité für Patienten, die an häufigen Infektionen leiden und bei denen ME/CFS durch einen Infekt ausgelöst wurde. Zurzeit beschränkt auf
Patienten aus der Region Berlin/Brandenburg: www.cfc.charite.de.
Die Immundefektambulanz bietet darüber hinaus Ärzten eine telefonische Beratung und regelmäßige Fortbildungen an. Mehr Informationen dazu hier.
Kinderpoliklinik des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München
An der Kinderpoliklinik (KIP) des Klinikums rechts der Isar (MRI) der Technischen Universität München (TUM) leitet Frau Prof. Dr. med. Uta Behrends das MRI Chronische Fatigue Centrum (MCFC) für junge Menschen, an dem sich betroffene Patient*innen bis zu einem Alter von 21 Jahren vorstellen können. Die Versorgungs- und Forschungsschwerpunkte liegen auf postinfektiöser Fatigue und Myalgischer Encephalomyelitis/Chronischem Fatigue Syndrom (ME/CFS) nach Pfeifferschem Drüsenfieber durch Epstein-Barr-Virus (EBV) sowie nach COVID-19 durch SARS-CoV-2 (long COVID).
Webseite: https://www.mri.tum.de/chronische-fatigue-centrum-fuer-junge-menschen-mcfc
Literatur