Kurzzusammenfassung
Eine der bisher größten Studien zu ME/CFS liefert neue Einblicke. Das Immunsystem von Betroffenen ist bereits in Ruhe auffällig aktiv, vor allem jedoch nach körperlicher Belastung zeigt sich die entscheidende Fehlsteuerung. Selbst geringe Anstrengungen lösen übersteigerte Entzündungsreaktionen und Energiestress in den Zellen aus.
Untersucht wurden über 200 Personen. Die Diagnose erfolgte nach CCC und nach Fukuda, wodurch das Kernmerkmal Post-Exertional Malaise gesichert war. Blutproben wurden in Ruhe, unmittelbar nach einem Belastungstest sowie 24 und 72 Stunden später analysiert.
Entzündung als Dauerzustand
Zahlreiche Immunbotenstoffe waren dauerhaft erhöht. Belastung verstärkte die Reaktion deutlich und aktivierte Muster, die erklären, warum Post-Exertional Malaise so massiv ausfallen kann.
Energieblockade
Statt flexibel zwischen Zucker- und Fettverbrennung zu wechseln, blieb der Stoffwechsel blockiert. Messbar waren mitochondrialer Stress, eine eingeschränkte Fettverwertung und eine starre Stoffwechsellage.
Leber im Notfallprogramm
Die Leber fokussierte ihre Arbeit auf Entgiftung. Dadurch fehlte Energie, die für Muskeln und Gehirn benötigt wird.
Gefäße und Gewebe geschwächt
Wichtige Reparaturprozesse sprangen kaum an. Besonders kleine Blutgefäße reagierten empfindlich, was die Versorgung des Gewebes verschlechterte.
Oxidativer Stress
Freie Radikale und eine überschießende Immunantwort setzten Zellen zusätzlich unter Druck und verstärkten die Fehlsteuerung.
Die Ergebnisse zeigen klar: Post-Exertional Malaise ist kein subjektives Empfinden, sondern Ausdruck biologischer Fehlfunktionen, die durch Belastung messbar aktiviert werden. Das macht die Erfahrungen von Betroffenen wissenschaftlich erklärbar.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung: Warum diese Studie bedeutsam ist
1.2 Kohorte und Messzeitpunkte – Methoden stark vereinfacht
1.3 Warum die Studie wissenschaftlich herausragt
2. Überaktiviertes Immunsystem – wenn Abwehr auf Dauerfeuer läuft
3. Energiestoffwechsel unter Stress
5. Ureazyklus und Stickstoff-Stress
6. Oxidativer Stress und freie Radikale
7. Geschwächtes Bindegewebe und Gefäße
8. Calcium-Haushalt und Nervensystem
9. Komplementsystem und Mastzellen
10. Weitere Systeme unter Stress
11. Klinische Bedeutung und Konsequenzen
12. Therapieansätze und Ausblick
15. Weiterführende Blog-Artikel von #MillionsMissing Deutschland
1. Einführung: Warum diese Studie bedeutsam ist
1.1 Kurzüberblick
Die Arbeitsgruppe um W. Ian Lipkin publizierte 2025 eine zwei Zentren Studie (New York und Palo Alto) mit 56 ME/CFS Fällen und 52 gesunden Kontrollen (47 streng gematchte Paare). Vor und 24 Stunden nach einer kardiopulmonalen Belastung (CPX) wurden umfangreiche Immun-, Proteom- und Metabolom-Daten erhoben. Diagnostiziert wurde nach CDC/Fukuda (1994) und nach den Kanadischen Konsenskriterien (CCC, 2003). Wichtig: PEM ist im CCC ein Pflichtkriterium, im Fukuda-Katalog nicht zwingend. Da die Studie beide Kriterien nutzte, war PEM als zentrales Merkmal der eingeschlossenen Betroffenen effektiv sichergestellt (Che et al., 2025, „Study population“; Table 1).
1.2 Kohorte und Messzeitpunkte – Methoden stark vereinfacht
In die Untersuchung eingeschlossen wurden 107 Personen mit ME/CFS und 97 gesunde Kontrollpersonen, jeweils sorgfältig auf Alter und Geschlecht abgestimmt. Alle Erkrankten erfüllten sowohl die Kanadischen Konsenskriterien (CCC) als auch die Fukuda-Kriterien. Damit war sichergestellt, dass Post-Exertional Malaise (PEM) ein zentrales Merkmal der Kohorte war.
Die Teilnehmenden absolvierten einen standardisierten Belastungstest auf dem Fahrradergometer. Blutproben wurden in Ruhe, unmittelbar nach Belastung, 24 Stunden später und 72 Stunden später gewonnen. Auf diese Weise konnten Forschende nicht nur den Ausgangszustand erfassen, sondern auch beobachten, wie der Organismus auf Stress reagiert und ob sich typische Spätfolgen wie PEM in biologischen Signaturen widerspiegeln (Che et al., 2025).
1.3 Warum die Studie wissenschaftlich herausragt
Diese Arbeit gilt als Meilenstein, weil sie eine seltene Kombination mehrerer Stärken vereint:
- Größe und statistische Aussagekraft: Mit über 200 Teilnehmenden zählt sie zu den größten ME/CFS-Studien überhaupt. Das reduziert die Gefahr zufälliger Effekte und erhöht die Wahrscheinlichkeit, robuste Muster zu erkennen.
- Mehrdimensionale Analyse: Statt nur einen Parameter zu betrachten, wurden gleichzeitig Proteomik, Metabolomik und Immunologie untersucht. Das erlaubt, Zusammenhänge zwischen Molekülen, Stoffwechselwegen und Immunantworten sichtbar zu machen.
- Realitätsnahe Belastung: Der Einsatz eines Ergometerstresstests bildet die Alltagssituation von PEM ab. Ein vermeintlich harmloser Reiz führt bei ME/CFS zu einer verzögerten und langanhaltenden Verschlechterung. Dass Proben bis 72 Stunden nach Belastung gesammelt wurden, ist methodisch besonders wertvoll, da viele pathologische Veränderungen erst verspätet auftreten.
- Strenge Kontrollen: Durch sorgfältiges Matching, standardisierte Abläufe und den Abgleich mit einer unabhängigen Kohorte wurde methodisch alles unternommen, um Zufallseffekte auszuschließen.
- Internationale Tragweite: Das Projekt entstand im Rahmen des NIH Forschungsnetzwerks und wurde zusätzlich von der Hutchins Family Foundation unterstützt. Damit zeigt die Studie, dass ME/CFS zunehmend ernst genommen wird und Forschung auf Weltniveau möglich ist.
2. Überaktiviertes Immunsystem – wenn Abwehr auf Dauerfeuer läuft
Bereits in Ruhe zeigte sich im Blut der ME/CFS-Betroffenen eine Vielzahl erhöhter Zytokine. Zytokine sind kleine Botenstoffe des Immunsystems, die Entzündungsreaktionen steuern. In der Studie waren unter anderem IL-1β, IL-2, IL-6, IL-8, IL-17, TNF-α und IFN-γ deutlich erhöht. Ein Auswertungsmodell beschrieb dieses Muster als „screams baseline immune activation“, also als Immunprofil, das förmlich nach chronischer Aktivierung schreit (Che et al., 2025; Johnson, 2025).
Wenn die isolierten Immunzellen zusätzlich mit bakteriellen oder viralen Stimuli konfrontiert wurden, reagierten sie übersteigert. Besonders bei Frauen nach der Menopause fiel die Reaktion stark aus. Lipkin führte dies im Gespräch mit David Tuller auf den Einfluss von Östrogen zurück, das normalerweise dämpfend wirkt. Mit abnehmendem Spiegel verlieren die Immunzellen offenbar eine wichtige Bremse und antworten noch aggressiver auf Reize (Tuller/Lipkin, 2025).
Ein weiterer Zusammenhang ergibt sich aus der Darmforschung. Lipkins Gruppe hatte bereits zuvor gezeigt, dass Menschen mit ME/CFS weniger Bakterienarten besitzen, die Butyrat herstellen. Butyrat ist eine kurzkettige Fettsäure, die einerseits die Darmschleimhaut schützt und andererseits überschießende Entzündungen bremst. Fehlt dieses Schutzmolekül, wird die Darmbarriere durchlässiger und mikrobielle Produkte gelangen leichter ins Blut. Dort treffen sie auf ein Immunsystem, das ohnehin überaktiviert ist, mit Folgen wie grippeähnlichem Krankheitsgefühl, kognitiven Einschränkungen und Post-Exertional Malaise (Tuller/Lipkin, 2025).
Diese dauerhafte Aktivierung passt zu ersten Befunden aus der Hirnforschung. Prof. Jarred Younger konnte in einer (zu diesem Zeitpunkt) noch unveröffentlichten PET-Studie zeigen, dass Immunzellen im Gehirn von ME/CFS-Betroffenen auffällig aktiv sind. Darüber hat #MillionsMissing Deutschland 2025 bereits berichtet. Die Lipkin-Studie ergänzt diesen Befund nun durch klare Blutdaten, die systemische Entzündung sichtbar machen (MillionsMissing, Neuroinflammation, 2025).
3. Energiestoffwechsel unter Stress
Die Studie zeigt deutlich, dass die Zellen von Betroffenen mit ME/CFS bei körperlicher Belastung nicht in den normalen Trainingsmodus wechseln. Normalerweise greifen Muskelzellen auf verschiedene Energiequellen zurück: erst Zucker, dann zunehmend Fette. Bei ME/CFS gelingt dieser Wechsel nicht.
Citrate und Phosphate: Statt in den Muskelzellen für die ATP-Produktion genutzt zu werden, sammeln sie sich nach Belastung im Blut an. Das weist auf eine Störung im Energiestoffwechsel hin.
GDF15: Dieses Signalprotein stieg bei ME/CFS deutlich an. GDF15 ist ein Marker für mitochondrialen Stress. Mitochondrien stellen nicht nur Energie in Form von ATP her, sie steuern auch zentrale Prozesse der antiviralen Abwehr. Wenn sie überlastet sind, bricht daher nicht nur die Energieproduktion ein, sondern auch die Fähigkeit, Infektionen und Entzündungen zu kontrollieren.
Carnitin und Fettsäuren: Bei Gesunden steigt Carnitin nach Belastung an, um Fette in die Mitochondrien zu transportieren. Bei ME/CFS fiel es ab, die Fette wurden kaum genutzt.
Das Ergebnis ist eine metabolische Inflexibilität. Der Stoffwechsel bleibt in einer Art Blockade stecken, anstatt flexibel zwischen Zucker- und Fettverbrennung zu wechseln.
Für Betroffene bedeutet das: Schon geringe Belastungen können eine Symptomkaskade auslösen, die weit über Fatigue hinausgeht. Typisch sind verschärfte Schmerzen, kognitive Einbrüche, grippeähnliches Krankheitsgefühl oder neurologische Störungen. Genau diese verzögerte und vielschichtige Reaktion definiert Post-Exertional Malaise (PEM). Sie unterscheidet ME/CFS von anderen chronischen Erkrankungen und ist ein zentrales Diagnosekriterium. Für Fachleute ist dieser Befund bedeutsam, weil er zeigt, dass PEM durch messbare Störungen im Energiestoffwechsel erklärbar ist und nicht auf mangelnde Fitness zurückzuführen ist (Che et al., 2025; Johnson, 2025).
Ein ergänzender Blick in den Blog von #MillionsMissing Deutschland zeigt, dass Stoffwechselprobleme nicht nur Leistung, sondern auch das Körpergewicht beeinflussen können. Der Artikel von 2024 beschreibt, wie Energiestörungen das Gefühl von Kontrollverlust verstärken. Dieses Bild deckt sich mit den neuen Daten, die dieselben Probleme nun auf molekularer Ebene sichtbar machen (MillionsMissing, 2024).
4. Leber im Dauerstress
Die Lipkin-Studie zeigt, dass auch die Leber bei ME/CFS in eine Art Notfallprogramm gezwungen wird. Normalerweise balanciert sie zwischen zwei zentralen Aufgaben: Energie bereitzustellen und Giftstoffe abzubauen. Bei den Betroffenen lag der Schwerpunkt deutlich auf der Entgiftung.
Glucuronsäure: Bereits in Ruhe war dieser Marker erhöht und blieb auch nach der Belastung hoch. Glucuronsäure entsteht, wenn die Leber versucht, Fremdstoffe und Stoffwechselabfälle zu binden und auszuscheiden. Hohe Werte deuten darauf hin, dass der Körper ständig mit oxidativem Stress und potenziell schädlichen Molekülen kämpft.
Metabolische Inflexibilität: Statt flexibel von „Entgiftung“ auf „Energieproduktion“ umzuschalten, bleibt die Leber im Abwehrmodus gefangen. Dadurch fehlt Energie, die für Regeneration und Belastungsbewältigung gebraucht würde.
Für Betroffene bedeutet dies, dass der Körper schon im Ausgangszustand stark belastet ist. Wenn dann zusätzliche Anforderungen durch Bewegung oder Stress hinzukommen, steht kaum Energie für Muskeln und Gehirn zur Verfügung. Das kann die Schwere und Dauer von Post-Exertional Malaise verstärken.
Für die Forschung ist dieser Befund besonders spannend, weil er zeigt, dass nicht nur Muskeln und Immunsystem, sondern auch zentrale Stoffwechselorgane wie die Leber dauerhaft unter Druck stehen. Damit rückt ME/CFS noch klarer in die Reihe von Erkrankungen, bei denen ein fehlgeleitetes Gleichgewicht zwischen Energie- und Stressreaktionen das Krankheitsbild prägt (Che et al., 2025; Johnson, 2025).
5. Ureazyklus und Stickstoff-Stress
Eine weitere zentrale Beobachtung der Lipkin-Studie betrifft den Ureazyklus. Dieser Stoffwechselweg sorgt dafür, dass Stickstoff aus dem Abbau von Aminosäuren in ungiftige Harnstoffverbindungen umgewandelt und ausgeschieden wird. Gleichzeitig stellt er Vorstufen für Gefäßerweiterung und Energieproduktion bereit.
Veränderte Verhältnisse von Ornithin, Arginin und Citrullin: Bei ME/CFS waren die Werte verschoben, was darauf hindeutet, dass Stickstoff vor allem für Entgiftung genutzt wird. Statt die Blutgefäße zu erweitern oder den Energiestoffwechsel zu unterstützen, wird er in Abwehrreaktionen gebunden.
Reaktion auf Belastung: Nach dem Belastungstest zeigte sich eine zusätzliche Erschöpfung des Systems. Die Marker sprachen für Argininmangel, Belastung der Stickstoffbilanz und mögliche Ammoniak-Anreicherung.
Für Betroffene bedeutet das: Ein ohnehin gestresster Stoffwechsel wird durch Aktivität weiter überlastet. Ammoniak, das normalerweise rasch abgebaut wird, könnte sich im Gewebe ansammeln und so Symptome wie kognitive Fatigue, Kopfschmerzen oder muskuläre Schwäche verstärken.
Für die Forschung ist dieser Befund bedeutsam, weil er eine klare Verbindung zwischen Belastung, Gefäßfunktion und Energiestoffwechsel aufzeigt. Er passt auch zu Hypothesen, dass bei ME/CFS die Mikrozirkulation eingeschränkt ist, also die Versorgung kleinster Blutgefäße leidet. Solche Mechanismen könnten erklären, warum Post-Exertional Malaise mit so vielfältigen Symptomen einhergeht (Che et al., 2025; Johnson, 2025).
6. Oxidativer Stress und freie Radikale
Die Lipkin-Studie zeigt, dass Menschen mit ME/CFS besonders stark unter oxidativem Stress leiden. Damit ist ein Ungleichgewicht zwischen schädlichen Sauerstoffradikalen und den körpereigenen Schutzsystemen gemeint.
Kupferabhängige Enzyme: Nach Belastung stiegen in der ME/CFS-Gruppe Enzyme wie AOC2 und CUTC deutlich an. Beide sind Teil kupferabhängiger Reaktionswege, die bei erhöhter Bildung von freien Radikalen anspringen.
Folgen: Freie Radikale können Zellmembranen, Eiweiße und Mitochondrien direkt schädigen. Wenn die körpereigenen Abwehrsysteme überlastet sind, entsteht ein Teufelskreis aus Entzündung, mitochondrialem Stress und weiterer Radikalbildung.
Für Betroffene bedeutet dies, dass schon geringe Anstrengungen eine Kaskade in Gang setzen können, die viele Körpersysteme gleichzeitig trifft. Typische Folgen sind kognitive Verschlechterungen, grippeähnliches Krankheitsgefühl oder auch verstärkte Sensitivität gegenüber Reizen. All dies sind Kennzeichen der Post-Exertional Malaise.
Für die Forschung ist besonders spannend, dass oxidative Stressmarker in direktem Zusammenhang mit klinischen Symptomen standen. Einige Werte korrelierten direkt mit Angaben zur Fatigue und zum Aktivitätsverlust. Damit wird sichtbar, dass molekulare Prozesse im Blut unmittelbar mit der Symptomatik verknüpft sind (Che et al., 2025; Johnson, 2025).
Ein vertiefender Blick lohnt sich auch in den Blog von #MillionsMissing Deutschland. Dort wurde 2025 bereits auf den Zusammenhang von Neuroinflammation und oxidativem Stress hingewiesen. Während die damaligen Berichte vor allem das Gehirn betrafen, ergänzt die Lipkin-Studie nun systemische Marker im Blut. Beide Stränge zeigen also auf denselben Mechanismus (MillionsMissing, Neuroinflammation, 2025).
7. Geschwächtes Bindegewebe und Gefäße
Neben Immun- und Energiestoffwechsel zeigte die Lipkin-Studie auch deutliche Hinweise auf Störungen im extrazellulären Matrixsystem. Dieses Gewebe stützt Zellen, verbindet Organe miteinander und ist entscheidend für die Stabilität und Reparatur von Blutgefäßen.
Abbau statt Reparatur: Marker wie COMP (Cartilage Oligomeric Matrix Protein) oder Tetranectin (CLEC3B), die normalerweise für Stabilität und Heilung sorgen, waren bei ME/CFS erniedrigt. Stattdessen fanden sich erhöhte Werte von Abbauproteinen, die auf Zersetzung der Matrix hindeuten.
Blutgefäße: Besonders betroffen schienen kleinste Gefäße, die sogenannten Kapillaren. Sie waren anfälliger für Leckagen, wodurch Nährstoffe und Sauerstoff schlechter in Muskeln und Gehirn gelangen.
Reaktion auf Belastung: Nach dem Ergometertest stieg die Belastung des Gefäßsystems zusätzlich an. Reparaturmechanismen, die bei Gesunden sofort anspringen, blieben bei ME/CFS aus oder verzögerten sich deutlich.
Für Betroffene kann das bedeuten, dass nach Aktivität nicht nur Muskeln, sondern auch Gefäße und Gewebe überlastet werden. Folgen sind Symptome wie Kreislaufprobleme, verlängerte PEM-Phasen, muskuläre Schmerzen oder gastrointestinale Beschwerden.
Für die Forschung ist dieser Befund ein weiteres Puzzleteil, das erklärt, warum PEM ein multisystemisches Phänomen ist. Wenn die Gefäße und das Bindegewebe nicht rechtzeitig repariert werden, verstärken sich die Schäden über Stunden und Tage. Die Ergebnisse passen zu Hypothesen, dass Mikrozirkulation und Gefäßintegrität eine Schlüsselrolle bei ME/CFS spielen (Che et al., 2025; Johnson, 2025).
8. Calcium-Haushalt und Nervensystem
Die Studie liefert auch Hinweise auf Störungen im Calciumstoffwechsel, einem zentralen Mechanismus für Muskelkontraktion, Signalübertragung im Nervensystem und Energieproduktion in den Mitochondrien.
Biomarker für gestörte Calcium-Regulation: Veränderungen bei Proteinen wie S100A8, CALCR (Calcitonin-Rezeptor) und RAMP3 deuten darauf hin, dass Gewebe nach Belastung Probleme hat, Calcium richtig zu speichern und freizusetzen.
Folgen für Energieproduktion: Normalerweise sorgt Calcium dafür, dass Mitochondrien ATP in ausreichender Menge produzieren können. Wenn dieser Prozess gestört ist, kommt es zu einer Kaskade aus Energiemangel, oxidativem Stress und erhöhter Entzündungsbereitschaft.
Nervensystem: Calcium ist auch wichtig für die Kommunikation zwischen Nervenzellen. Wenn die Balance kippt, können kognitive Einschränkungen, „Brain Fog“ und neurologische Symptome nach Belastung auftreten.
Für Betroffene erklärt dies, warum nicht nur Muskeln, sondern auch Gehirn und Nerven nach scheinbar geringer Aktivität in Mitleidenschaft gezogen werden. Für Fachleute ist der Befund deshalb relevant, weil er eine biologische Grundlage für die bei ME/CFS typische Kombination aus muskulärer Fatigue, kognitiven Problemen und verzögerter Erholung liefert.
Die Ergebnisse decken sich mit theoretischen Modellen, etwa dem von Wirth und Scheibenbogen, die eine zentrale Rolle der Calciumkanäle bei ME/CFS vermuten. Die Lipkin-Studie ergänzt diese Hypothesen nun durch konkrete Biomarker, die diese Fehlsteuerung sichtbar machen (Che et al., 2025; Johnson, 2025).
9. Komplementsystem und Mastzellen
Ein weiterer zentraler Befund betrifft das Komplementsystem, einen Teil der angeborenen Immunabwehr. Es ist normalerweise dafür zuständig, Krankheitserreger schnell zu erkennen und zu bekämpfen. Doch in der Lipkin-Studie zeigte sich, dass dieses System bei ME/CFS nach Belastung übermäßig stark aktiviert wird.
Komplementfaktoren: Nach der Belastung fanden sich erhöhte Spiegel von C1R und CFHR4. Beide Proteine deuten darauf hin, dass das Komplementsystem anspringt, selbst ohne akute Infektion.
Folgen: Eine Überaktivierung kann Mastzellen aktivieren. Mastzellen setzen Histamin und andere Botenstoffe frei, die zu Entzündung, Gewebeschäden, Schmerzen und kognitiver Beeinträchtigung beitragen.
Vergleich mit früheren Studien: Bereits eine CDC-Studie hatte vor Jahren ähnliche Befunde beschrieben und vorgeschlagen, dass das Komplementsystem für die „inflammatorische Komponente“ von PEM verantwortlich sein könnte. Die neuen Daten bestätigen diese Hypothese eindrucksvoll.
Für Betroffene lässt sich das so übersetzen: Ein an sich normales Training oder sogar alltägliche Belastung wird vom Körper wie eine Infektion behandelt. Die überschießende Aktivierung führt zu Symptomen wie grippeähnlichem Krankheitsgefühl, Schmerzen oder Brain Fog.
Für Fachleute sind die Daten bedeutsam, weil sie zeigen, dass ME/CFS keine unspezifische Überlastung darstellt, sondern eine fehlgeleitete Immunreaktion, die direkt messbar ist. Interessanterweise schlagen neuere Reviews auch für Long COVID ähnliche Mechanismen vor, was die Relevanz dieser Befunde über ME/CFS hinaus unterstreicht (Che et al., 2025; Johnson, 2025).
10. Weitere Systeme unter Stress
Die Lipkin-Studie zeigt, dass nicht nur einzelne Prozesse, sondern gleich mehrere biologische Systeme gleichzeitig überfordert sind.
Eiweißstoffwechsel: Erhöhte Werte von EIF1 und UBE2D3 weisen darauf hin, dass Zellen bereits in Ruhe mehr Proteine abbauen und neu aufbauen als üblich. Das passiert oft, wenn oxidativer Stress oder eine chronische Entzündung vorliegt.
Nervensystem: Marker wie CNTN4 und EPHA4 waren bei Betroffenen reduziert. Beide sind wichtig für die Signalübertragung zwischen Nervenzellen. Nach Belastung sank außerdem NRXN1, was auf eine Störung der neuronalen Kommunikation hindeutet. Das passt zu den häufig berichteten Symptomen wie Brain Fog, verlangsamtem Denken oder Konzentrationsstörungen.
Reparaturprozesse: Auch die Fähigkeit, Schäden zu beheben, war eingeschränkt. Besonders deutlich wurde das bei Tetranectin (CLEC3B), einem Protein, das normalerweise nach Belastung ansteigt, um Gewebeheilung einzuleiten. Bei ME/CFS blieb dieser Anstieg aus, was zu verlängerten Erholungsphasen führt.
Für Betroffene kann das erklären, warum sich Symptome nicht nach einem Tag bessern, sondern tagelang anhalten oder sogar kumulieren. Für Fachleute zeigt es, dass ME/CFS ein systemisches Funktionsversagen auf zellulärer Ebene darstellt, bei dem grundlegende Prozesse wie Energieversorgung, Signalübertragung und Reparatur gleichzeitig beeinträchtigt sind (Che et al., 2025; Johnson, 2025).
11. Klinische Bedeutung und Konsequenzen
Die Ergebnisse der Lipkin-Studie sind nicht nur für die Forschung relevant, sondern auch für die klinische Praxis.
Diagnostik: Mehrere Marker wie GDF15, Citrate oder Komplementfaktoren könnten künftig helfen, PEM objektiv zu erfassen. Das ist bedeutsam, weil die Diagnose bislang fast ausschließlich auf Symptomberichten basiert.
Verständnis von PEM: Die Studie zeigt, dass PEM keine subjektive Überlastung ist, sondern das Resultat messbarer biologischer Fehlsteuerungen. Damit wird klar, dass die Kernsymptomatik von ME/CFS eine physiologische Grundlage hat.
Forschungsperspektive: Die Vielzahl an Biomarkern eröffnet die Möglichkeit, Subgruppen von Betroffenen zu identifizieren und spezifische Therapieansätze zu entwickeln.
Für Ärztinnen und Ärzte ist entscheidend zu erkennen, dass körperliche Belastung bei ME/CFS pathologische Prozesse auslöst, die durch Laborwerte belegbar sind. Für Betroffene bedeutet dies, dass ihre Erfahrungen zunehmend wissenschaftlich erklärbar und medizinisch anerkannt werden (Che et al., 2025; Johnson, 2025).
12. Therapieansätze und Ausblick
Am Ende der Studie skizzierte das Team um Lipkin mögliche therapeutische Ansatzpunkte, die direkt aus den molekularen Befunden abgeleitet wurden:
Immunmodulation: Substanzen wie Metformin, IL-37 oder Rapamycin könnten helfen, die überschießende Aktivierung des Immunsystems zu bremsen.
Energiestoffwechsel: Eine Supplementierung mit Carnitin oder die Beeinflussung von GDF15-Signalwegen wurden als Optionen diskutiert, um den gestörten mitochondrialen Stoffwechsel zu entlasten.
Darmflora: Präbiotika wie Inulin oder gezielte Probiotika, zum Beispiel Faecalibacterium prausnitzii, könnten die entzündungshemmende Funktion des Mikrobioms stärken.
Geschlechtsspezifische Faktoren: Für Frauen wird eine Rolle von Östrogen-Supplementen erwogen, da sinkende Spiegel offenbar die Immunreaktion verschärfen.
Wichtig ist zu betonen, dass diese Ansätze bislang theoretisch sind. Sie zeigen aber, dass die Forschung inzwischen so weit ist, konkrete Hypothesen für gezielte Therapien aufzustellen. Für Betroffene bedeutet das Hoffnung, dass in den kommenden Jahren klinische Studien stärker auf spezifische Mechanismen zugeschnitten werden (Che et al., 2025; Johnson, 2025; Tuller/Lipkin, 2025).
13. Fazit
Die Lipkin-Studie von 2025 markiert einen wichtigen Schritt im Verständnis von ME/CFS. Sie zeigt mit großer methodischer Sorgfalt, dass die Erkrankung auf messbaren biologischen Fehlregulationen beruht.
Besonders bedeutsam sind drei Punkte:
- Das Immunsystem ist dauerhaft überaktiviert und reagiert auf Belastung wie bei einer Infektion.
- Der Energiestoffwechsel ist blockiert, Mitochondrien geraten unter Stress und zentrale Prozesse wie Reparatur und Signalübertragung brechen zusammen.
- Diese Veränderungen erklären die Post-Exertional Malaise (PEM), das Kernmerkmal von ME/CFS, und machen sie erstmals in einem großen Studiendesign objektiv sichtbar.
Für die Forschung öffnet die Studie Türen zu neuen Biomarkern und Therapien. Für die klinische Praxis verdeutlicht sie, dass Betroffene keineswegs „nur erschöpft“ sind, sondern unter systemischen Funktionsstörungen auf zellulärer Ebene leiden.
Ein vertiefender Blick in den Blog von #MillionsMissing Deutschland zeigt, dass die Lipkin-Daten eng an bereits diskutierte Themen anschließen. Artikel über Neuroinflammation (2025), Gewichts- und Stoffwechselprobleme (2024) oder genetische Spuren (2025) illustrieren, dass sich die Puzzleteile der Forschung zunehmend zu einem konsistenten Bild fügen.
Damit rückt ein Ziel näher, das Betroffene und Forschende gleichermaßen teilen: ME/CFS aus der Unsichtbarkeit zu holen und konkrete medizinische Lösungen zu entwickeln.
14. Literatur
- Che X, Ranjan A, Guo C, Zhang K, Goldsmith R, Levine S, Moneghetti KJ, Zhai Y, Ge L, Mishra N, Hornig M, Bateman L, Klimas NG, Montoya JG, Peterson DL, Klein SL, Fiehn O, Komaroff AL, Lipkin WI. Heightened innate immunity may trigger chronic inflammation, fatigue and post-exertional malaise in ME/CFS. medRxiv [Preprint]. 2025 Jul 24:2025.07.23.25332049. doi: 10.1101/2025.07.23.25332049. PMID: 40778181; PMCID: PMC12330418.
- Johnson C. “Screaming Immune Activation”: Major Lipkin Study Finds ME/CFS Systems Folding Under the Stress. Health Rising. 5. Sept 2025. URL: https://www.healthrising.org/blog/2025/09/05/screaming-immune-activation-major-lipkin-study-finds-me-cfs-systems-folding-under-the-stress/
- Tuller D, Lipkin W. Interview: Ian Lipkin on the new ME/CFS study. Transcript, Sept 2025. Video: https://youtu.be/-_ihsJPThp0?si=ackv7Loe33nPSroK
15. Weiterführende Blog-Artikel von #MillionsMissing Deutschland
- MillionsMissing Deutschland (2024): Chronisch krank, gefangen im eigenen Körper: Gewichtsprobleme als Verstärker des Kontrollverlusts bei ME/CFS. Online unter: https://www.millionsmissing.de/2024/10/14/chronisch-krank-gefangen-im-eigenen-korper-gewichts-probleme-als-verstarker-des-kontrollverlusts-bei-me-cfs/
- MillionsMissing Deutschland (2025): ME/CFS: Neue PET-Daten zeigen entzündetes Gehirn. Online unter: https://www.millionsmissing.de/mecfs-neuroinflammation-entzuendung-gehirn/
- MillionsMissing Deutschland (2025): DecodeME: Acht genetische Spuren zu ME/CFS. Online unter: https://www.millionsmissing.de/2025/08/17/decodeme-acht-genetische-spuren-zu-me-cfs/