Kurzzusammenfassung
Zum ersten Mal haben Forschende genetische Koordinaten für ME/CFS identifiziert. Acht klare Signale betreffen Immun- und Nervensystem.
Die Studie im Überblick
Am 6. August 2025 veröffentlichte das DecodeME-Team einen Preprint mit den ersten Ergebnissen der größten genetischen Untersuchung zu ME/CFS. Insgesamt nahmen 15.579 Betroffene und 259.909 Kontrollpersonen teil. Damit konnte erstmals eine Genome-wide Association Study (GWAS) statistisch robuste Risikosignale aufzeigen.
Zentrale Erkenntnisse
- Acht genetische Signale (Loci) ragen heraus
- Betreffen T-Zell-Aktivierung, Mitochondrien, Mikroglia, angeborene Immunabwehr und Synapsenbildung
- Gene sind in 13 Gehirnregionen stärker aktiv als erwartet
- Keine genetische Überlappung mit Depression oder Angst
Bedeutung
Die Ergebnisse stützen die Theorie einer Immun-Neuro-Pathogenese. Passend dazu zeigt Jarred Youngers PET-Studie eine weit verbreitete Mikroglia-Aktivierung. DecodeME liefert damit eine wissenschaftliche Schatzkarte für künftige Forschung.
Inhaltsverzeichnis
1 DecodeME: Acht genetische „X“ auf der Schatzkarte zu ME/CFS
2 Warum Genetik ein Schlüssel sein kann
2.1 Vorteile genetischer Forschung
2.2 Problem klassischer Biomarker
2.3 Risikofaktoren statt Spuren
3 Der lange Weg zur ersten großen GWAS
3.1 Begrenzte Aussagekraft früherer Studien
3.2 Besondere Herausforderungen
3.4 Fokus auf europäische Abstammung
4 GWAS: gezielte Suche im Genom
4.2 Vergleich mit großen Kontrollgruppen
6 Die acht genetischen Signale im Überblick
7 Immunsystem trifft Nervensystem
8 Keine genetische Verbindung zu Depression oder Angst
9 Effektgrößen: klein, aber bedeutsam
10 Offene Fragen und nächste Schritte
1. DecodeME: Acht genetische „X“ auf der Schatzkarte zu ME/CFS
Am 6. August 2025 hat das DecodeME-Team die ersten Ergebnisse der bislang größten genetischen Untersuchung zu Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue Syndrom (ME/CFS) veröffentlicht. Die Daten liegen zunächst als Preprint vor. Jarred Younger wies in seiner Videoanalyse darauf hin, dass er neue Resultate nur dann öffentlich kommentiert, wenn er von deren Belastbarkeit überzeugt ist.
Er betonte, dass die genetischen Befunde konsistent zu seiner eigenen PET-Studie passt, die eine weit verbreitete Aktivierung der Mikroglia zeigt und dass man deshalb mit Sicherheit von einem entzündeten Gehirn bei ME/CFS sprechen kann. Laut DecodeME-Preprint 2025 wurden die DNA-Daten von 15.579 Erkrankten und 259.909 Kontrollpersonen ausgewertet (DecodeME Preprint 2025, DecodeME Website 2025). Diese Fallzahl ist bisher unerreicht. Zum ersten Mal gibt es eine Genome-wide Association Study (GWAS) mit genügend statistischer Power, um robuste genetische Risikosignale für ME/CFS zu identifizieren.
2. Warum Genetik ein Schlüssel sein kann
2.1 Vorteile genetischer Forschung
Wie Chris Ponting, leitender Wissenschaftler des Projekts, in einem Interview mit David Tuller erklärte, haben DNA-Studien den entscheidenden Vorteil, dass die Krankheit selbst die DNA nicht verändert (Tuller 2025).
2.2 Problem klassischer Biomarker
Klassische Blut- oder Gewebeuntersuchungen lassen oft offen, ob Unterschiede Folge oder Ursache einer Erkrankung sind (DecodeME Website 2025).
2.3 Risikofaktoren statt Spuren
Genetische Varianten sind von Geburt an vorhanden. Wenn bestimmte Varianten bei ME/CFS-Betroffenen häufiger vorkommen, sind diese wahrscheinlich ein Risikofaktor und damit wertvolle Hinweise auf Krankheitsursachen (DecodeME Preprint 2025).
2.4 Grundlagen der DNA
DNA besteht aus vier chemischen Buchstaben A, T, C und G, die in einer festen Reihenfolge angeordnet sind. Diese Sequenzen bilden die Baupläne für Proteine, die alle Abläufe im Körper steuern, vom Stoffwechsel bis zur Immunabwehr. Finden Forschende heraus, welche Gene bei ME/CFS häufiger Varianten aufweisen, können sie direkt Rückschlüsse auf gestörte biologische Prozesse ziehen (DecodeME Website 2025).

3. Der lange Weg zur ersten großen GWAS
3.1 Begrenzte Aussagekraft früherer Studien
Frühere genetische Untersuchungen zu ME/CFS waren oft zu klein und führten zu keinen eindeutigen Ergebnissen (McGrath 2025).
3.2 Besondere Herausforderungen
Die Erkrankung ist heterogen, Diagnosekriterien variieren und viele Studien schlossen schwer Erkrankte nicht ein. Jarred Younger betont dies in seiner aktuellen Videoanalyse (Younger 2025).
3.3 Der Ansatz von DecodeME
DecodeME setzte auf eine sehr große Teilnehmerzahl, Kriterien wie die IOM- oder kanadischen Kriterien (CCC) mit verpflichtendem Kernmerkmal Post-Exertional Malaise sowie eine Teilnahme per Speichelprobe, um auch Haus- und Bettgebundene einzubeziehen (DecodeME Website 2025).
3.4 Fokus auf europäische Abstammung
In der ersten Auswertung konzentrierte sich DecodeME auf Personen mit europäischer Abstammung, um genetische Unterschiede zwischen Ethnien nicht als Störfaktor zu haben. Weitere Analysen für andere Gruppen sind geplant (DecodeME Preprint 2025).
4. GWAS – gezielte Suche im Genom
4.1 Funktionsprinzip
Eine GWAS untersucht nicht jede der drei Milliarden DNA-Positionen, sondern nur Stellen, an denen sich Menschen häufig unterscheiden, sogenannte Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs). DecodeME analysierte fast neun Millionen SNPs pro Person (DecodeME Website 2025).
4.2 Vergleich mit großen Kontrollgruppen
Diese Varianten wurden mit einer großen Kontrollgruppe verglichen. Je größer die Gruppen sind, desto leichter lassen sich statistisch belastbare Unterschiede erkennen. DecodeME nutzte für die Kontrollen unter anderem die UK Biobank mit fast 260.000 Personen (DecodeME Preprint 2025).

5. Das genetische „Manhattan“
Die Ergebnisse werden im sogenannten Manhattan-Plot dargestellt. Jeder Punkt repräsentiert einen SNP, aufgetragen nach seiner Position im Genom. Die Chromosomen liegen wie Stadtblöcke nebeneinander und die Signifikanz eines SNPs wird durch die Höhe des Punktes angezeigt. Acht signifikante Signale ragen über die festgelegte Signifikanzlinie hinaus. DecodeME beschreibt sie als X auf einer Schatzkarte, die den ungefähren Ort, aber nicht den exakten Auslöser markieren (DecodeME Website 2025).

6. Die acht genetischen Signale im Überblick
DecodeME berichtet über acht signifikante genetische Signale. Jedes Signal markiert eine Region im Genom, in der mehrere Varianten und mehrere Gene in Frage kommen. Die Zuordnung zu einzelnen Genen ist daher vorläufig und dient als Startpunkt für funktionelle Studien. DecodeME beschreibt diese Signale als „X auf einer Schatzkarte“, die den Ort zum „Graben“ markieren, nicht aber bereits die exakte Ursache. Die nachfolgenden Genzuordnungen stützen sich auf die im Preprint und auf der Projektseite dargestellten Priorisierungen sowie auf die Einordnungen von Younger, Tuller und McGrath. (DecodeME Preprint 2025, DecodeME Website 2025, Younger 2025, Tuller 2025, McGrath 2025)
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RABGAP1L
Kandidat im Bereich eines Signals mit Funktionen im intrazellulären Vesikeltransport und in neuronalen Prozessen. DecodeME hebt hervor, dass das Protein von RABGAP1L auch bei der Abwehr bestimmter Erreger beteiligt ist. Bei ME/CFS-Betroffenen zeigte sich eine geringere Menge dieses schützenden Proteins. Ein Mangel kann sowohl die Immunabwehr schwächen als auch die Kommunikation zwischen Nervenzellen beeinträchtigen. (DecodeME Website 2025, DecodeME Preprint 2025)
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BTN2A2
Regulator der T-Zell-Aktivierung und damit Teil der adaptiven Immunprozesse. Ponting ordnet das Signal immunologisch ein und verweist auf vergleichbare Moleküle, die Bakterien erkennen und T-Zell-Rezeptoren steuern. Störungen in diesem Bereich könnten fehlgesteuerte Immunantworten erklären, wie sie bei ME/CFS diskutiert werden. (Tuller 2025, DecodeME Preprint 2025)
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FBXL4
Dieses Gen ist zentral für die Mitochondrienfunktion und die zelluläre Energiebereitstellung. Schwere Mutationen verursachen seltene mitochondriale Syndrome mit neurologischer Beteiligung, doch auch mildere Varianten können die Energieproduktion stören. DecodeME und Younger betonen, dass solche Varianten zur typischen Post-Exertional Malaise Beitragen könnten. (Younger 2025, DecodeME Preprint 2025, McGrath 2025)
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SUDS3
Kandidat mit Relevanz für die Regulation der Mikroglia, den Immunzellen im Gehirn. DecodeME beschreibt eine dämpfende Wirkung auf deren entzündliche Antwort. Fällt diese Regulierung aus, können Mikroglia überaktiv werden und zu chronischen Entzündungen im Nervensystem beitragen, was mit den PET-Befunden einer verbreiteten Mikroglia-Aktivierung bei ME/CFS korrespondiert. (DecodeME Website 2025, Younger 2025)
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OLFM4
Bestandteil der angeborenen Immunabwehr mit besonderer Bedeutung für Neutrophile. Diese Zellen sind wichtige Ersthelfer bei der Bekämpfung von Bakterien. Ponting erläutert, dass Fehlfunktionen in OLFM4 die Immunbalance stören und eine anhaltende oder überzogene Immunaktivität fördern könnten. (Tuller 2025, DecodeME Preprint 2025)
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CCPG1
Schlüsselgen für die Autophagie, die „Recycling- und Entsorgungsfunktion“ der Zellen. Störungen in diesem Prozess führen dazu, dass beschädigte Zellbestandteile akkumulieren, was oxidativen Stress und dauerhafte Stressantworten hervorruft. Younger ordnet CCPG1 in Hypothesen ein, wonach eine unzureichende zelluläre Müllabfuhr das chronische Symptomgeschehen verstärken könnte. (Younger 2025, DecodeME Preprint 2025)
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CA10
Gen, das an der Bildung von Synapsen beteiligt ist, den Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen. DecodeME fand eine deutliche genetische Überschneidung mit chronischem Schmerz. Diese Verbindung legt nahe, dass bei ME/CFS auch neuronale Signalwege betroffen sind, die Schmerzverarbeitung und Belastungssymptome beeinflussen. (DecodeME Website 2025, McGrath 2025)
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ARFGEF2 / CSE1L
Zwei benachbarte Gene innerhalb desselben Signals spielen eine wichtige Rolle im inneren Transport- und Kommunikationssystem von Zellen. ARFGEF2 steuert den Transport von Bläschen innerhalb der Nervenzellen. Diese Bläschen enthalten Botenstoffe, die an den Synapsen freigesetzt werden, damit Nervenzellen Informationen weitergeben können. Wenn dieser Prozess gestört ist, kann die Signalübertragung zwischen Nervenzellen verlangsamt oder fehlerhaft werden.
CSE1L hingegen ist an der Steuerung des Zellkerns beteiligt und sorgt dafür, dass bestimmte Proteine und Signale korrekt zwischen Zellkern und Zellkörper ausgetauscht werden. Störungen in diesem Bereich können die Reifung und Stabilität von Nervenzellen beeinträchtigen.
Beide Gene stehen daher in direktem Zusammenhang mit der Funktionsfähigkeit des Nervensystems. DecodeME und begleitende Kommentare sehen sie als plausible Kandidaten, weil Defekte an diesen Schnittstellen erklären könnten, warum bei ME/CFS sowohl kognitive Probleme als auch neurologische Symptome auftreten (DecodeME Preprint 2025, McGrath 2025).
(DecodeME Preprint 2025, DecodeME Website 2025, Younger 2025, Tuller 2025, McGrath 2025)
7. Immunsystem trifft Nervensystem
Die MAGMA-Analyse von DecodeME zeigte, dass die identifizierten Gene in 13 Gehirnregionen aktiver sind als statistisch erwartet. Viele dieser Gene haben immunologische Funktionen. Damit stützen die Ergebnisse die Hypothese einer Immun-Neuro-Pathogenese. Fehlgesteuerte Immunreaktionen könnten über Entzündungsprozesse im Nervensystem die typischen Symptome verursachen.
Jarred Younger sieht Parallelen zu seinen PET-Scans, die eine weit verbreitete Mikroglia-Aktivierung im Gehirn von ME/CFS-Betroffenen zeigen. Er vermutet, dass genetische Varianten in Immun- oder Nervenzellfunktionen erklären könnten, warum manche Menschen nach einer Infektion nie vollständig genesen.
(DecodeME Preprint 2025, DecodeME Website 2025, Younger 2025)
8. Keine genetische Verbindung zu Depression oder Angst
DecodeME prüfte gezielt, ob die gefundenen Loci mit genetischen Risikofaktoren für Depression oder Angststörungen überlappen. Das Ergebnis zeigt keine gemeinsame Kausalvariante.
#MillionsMissing Deutschland möchte hervorheben, dass dies psychosomatische Erklärungen weiter schwächt und die biologische Basis der Erkrankung unterstreicht.
(DecodeME Preprint 2025, DecodeME Website 2025)
9. Effektgrößen: klein, aber bedeutsam
Wie bei anderen komplexen Erkrankungen sind die Effektgrößen einzelner Loci klein. Jede Variante erhöht das Risiko nur minimal. Entscheidend ist die Kombination vieler kleiner Risikofaktoren.
Dieses Muster zeigt sich auch bei Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Typ-1-Diabetes, bei denen genetische Entdeckungen später zu neuen Therapien führten.
(DecodeME Website 2025, McGrath 2025)
10. Offene Fragen und nächste Schritte
- Analyse anderer Ethnien, um globale Risikosignale zu identifizieren
- Untersuchung der X- und Y-Chromosomen zur Erklärung der weiblichen Dominanz bei ME/CFS
- Detaillierte Analyse des Humanen Leukozytenantigen-Systems (HLA-System)
- Funktionelle Studien, um zu prüfen, wie die Varianten biologische Prozesse verändern
Chris Ponting betont, dass die Daten öffentlich zugänglich sind, um weitere Forschende anzuziehen.
(DecodeME Preprint 2025, Tuller 2025)
11. Von der Schatzkarte zur Therapie
In anderen Krankheitsfeldern vergingen zwischen GWAS-Entdeckung und Medikamentenentwicklung oft fünf bis fünfzehn Jahre. Entscheidend ist, dass nun erstmals klare Ziele vorliegen. Sonya Chowdhury, CEO von Action for ME, erklärte, man sei von fast keinem Wissen zu klaren Zielen gesprungen. Jetzt brauche es Forscher, Pharmafirmen und eine faire Finanzierung.
(DecodeME Website 2025)
12. Fazit
DecodeME markiert einen wichtigen Punkt in der ME/CFS-Forschung. Acht genetische Risikosignale wurden identifiziert, die zentrale Prozesse in Immun- und Nervensystem betreffen. Damit rückt erstmals eine klar biologische Grundlage der Erkrankung in den Fokus.
Besonders wichtig ist die Analyse mit MAGMA (Multi-marker Analysis of GenoMic Annotation). Dieses Verfahren prüft, in welchen Geweben und Organen die identifizierten Gene besonders aktiv sind. DecodeME zeigte, dass mehrere der beteiligten Gene in 13 Gehirnregionen deutlich aktiver sind als statistisch zu erwarten. Viele dieser Regionen haben immunologische Funktionen, was die Hypothese einer Immun-Neuro-Pathogenese stützt.
Ein weiterer entscheidender Befund: Es gibt keine genetische Überlappung mit Depression oder Angststörungen. Dies widerlegt psychosomatische Erklärungen weiter und unterstreicht die biologische Basis der Erkrankung.
Die Effektgrößen einzelner Loci sind zwar klein, doch in Summe können viele kleine genetische Risikofaktoren eine große Wirkung entfalten. Solche Muster finden sich auch bei anderen komplexen Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder Typ-1-Diabetes, bei denen genetische Entdeckungen später den Weg zu neuen Therapien ebneten.
DecodeME ist damit eine wissenschaftliche Schatzkarte: klare Koordinaten, aber die Ursachen müssen noch präzise entschlüsselt werden. Der nächste Schritt sind funktionelle Studien, Analysen verschiedener Ethnien sowie die Untersuchung der HLA-Region und der Geschlechtschromosomen.
Chris Ponting fasst es zusammen:
„Wir haben jetzt die Koordinaten. Die Schatzsuche hat gerade erst begonnen.“
Quellenverzeichnis
- DecodeME Collaboration (2025). Initial findings from the DecodeME genome-wide association study of myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome (preprint). Edinburgh Research Explorer. Preprint herunterladen
- DecodeME Website 2025 – X marks the spot where ME/CFS biology can be discovered. Zur Website
- Younger, J. (2025, 11. August). 068 – New results from a (very large) ME/CFS genetics study! [YouTube-Video]. Neuroinflammation, Pain, and Fatigue Laboratory – UAB. Video ansehen
- Tuller, D. M. (2025, 9. August). Interview with Professor Chris Ponting about the DecodeME results [YouTube-Video]. Video ansehen
- McGrath, S. (2025, 11. August). DecodeME: X marks the spot where ME/CFS biology can be discovered. ME/CFS Research Review. Artikel lesen