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„Veränderungen der Skelettmuskulatur bei Post-COVID-Syndrom und ME/CFS“ | Dr. Rob Wüst

Kurzzusammenfassung

Post-Exertional Malaise (PEM) ist das charakteristische Hauptmerkmal von ME/CFS und wird vermehrt auch bei Long COVID als zentrales Merkmal beschrieben. In der Studie von Dr. Rob Wüst jedoch erfüllten alle untersuchten Betroffenen die kanadischen Konsenskriterien (CCC), einschließlich PEM. Die sogenannte „Long-COVID-Kohorte“ unterscheidet sich von der ME/CFS-Kohorte ausschließlich im bekannten Auslöser – in diesem Fall SARS-CoV‑2. Pathophysiologisch jedoch zeigen sich keine grundsätzlichen Unterschiede, was darauf hinweist, dass es sich in diesem Fall um eine gemeinsame Erkrankung mit unterschiedlichen Triggern handelt.

 

Der biologische Ursprung der belastungsinduzierten Symptomverschlechterung (PEM) ist bislang nur unzureichend verstanden. Rob Wüst präsentierte auf der International ME/CFS Conference 2025 neue Forschungsergebnisse, die frühere Hinweise auf muskuläre Beteiligung bei PEM nicht nur bestätigen, sondern mit neuem methodischen Ansatz erweitern.

 

Seine Daten zeigen: PEM geht mit messbaren, strukturellen und funktionellen Veränderungen in der Skelettmuskulatur einher, insbesondere in Bezug auf mitochondriale Dysfunktion, gestörte Kapillarversorgung und immunologisch auffällige Reaktionen nach körperlicher Belastung.

 

Zentrales Element ist ein Zwei-Tages-Biopsieprotokoll, das Muskelproben vor und nach gezielter Belastung vergleicht.


Zu den wichtigsten Befunden gehören:

  • eine reduzierte mitochondriale Atmung, eine Verschiebung zu glycolytischen Fasertypen (also eine verminderte Fähigkeit der Muskeln, Energie effizient über Sauerstoff zu gewinnen, verbunden mit einer stärkeren Nutzung schneller, aber weniger ausdauernder Muskelfasern)
  • eine gestörte Kapillarisierung mit verdickter Basalmembran
  • das vermehrte Auftreten von T-Zell-Infiltraten
  • amyloidartigen Strukturen und
  • Lipofuszin-Ablagerungen

Diese Veränderungen unterscheiden sich deutlich von Effekten körperlicher Inaktivität (Dekonditionierung) und weisen auf krankheitstypische pathophysiologische Prozesse hin.

 

Wüst betonte: „PEM ist nicht einfach Fatigue oder Dyspnoe, sondern ein eigener pathophysiologischer Zustand.“



1. Einführung: Warum PEM im Mittelpunkt steht

Post-Exertional Malaise (PEM) ist das charakteristische Hauptmerkmal von ME/CFS. Sie beschreibt eine belastungsinduzierte Symptomverschlechterung, die nicht sofort, sondern meist verzögert nach 12 bis 48 Stunden eintritt, in einigen Fällen auch später. Auslösend können körperliche, kognitive, emotionale, sensorische oder orthostatische Reize sein, also ganz alltägliche Anforderungen wie Treppensteigen, Gespräche, Reizexposition oder längeres Sitzen oder Stehen. Die Verschlechterung ist nicht proportional zur Belastung und kann Tage bis Wochen anhalten oder sogar den Gesamtzustand dauerhaft verschlechtern [Wüst, Int. Conference 2025].

 

Trotz ihrer klinischen Relevanz ist die biologische Grundlage von PEM bislang nur unzureichend verstanden. Rob Wüst stellte auf der International ME/CFS Conference 2025 neue Forschungsergebnisse vor, die frühere Hinweise auf muskuläre Beteiligung bei PEM bestätigen und mit innovativer Methodik erweitern [Wüst, Int. Conference 2025].

 

Im Zentrum seiner Forschung steht die Frage, was während und nach Belastung im Skelettmuskel von Betroffenen passiert. Ziel ist es, objektivierbare Veränderungen sichtbar zu machen, die den Zustand der Betroffenen nicht nur nachvollziehbar machen, sondern auch zur Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Ansätze beitragen können.

 

Die nun vorliegenden Daten liefern genau dafür eine belastbare Grundlage:

Sie zeigen, dass die Belastungsreaktion bei ME/CFS nicht das Resultat diffuser Erschöpfung ist, sondern Ausdruck eines eigenständigen und komplexen pathophysiologischen Mechanismus, der zahlreiche Körpersysteme beeinflussen und infolgedessen eine Kaskade an Symptomen auslösen kann. [Charlton et al., 2024]

2. Kohortendefinition: Long COVID und ME/CFS – zwei Varianten einer Erkrankung?

In der vorgestellten Studie wurden zwei Betroffenengruppen untersucht, die im klinischen Alltag oft getrennt betrachtet werden: Long COVID und ME/CFS. Rob Wüst stellte jedoch klar, dass es sich bei beiden Kohorten um klinisch und pathophysiologisch vergleichbare Erkrankungsverläufe handelt, mit unterschiedlichen Auslösern, aber vergleichbarem Krankheitsbild, sofern die kanadischen Konsenskriterien (CCC) erfüllt wurden [Wüst, Int. Conference 2025].

 

Sowohl die ME/CFS- als auch die Long-COVID-Kohorte erfüllten die CCC, einschließlich des Vorliegens von PEM. Der einzige Unterschied zwischen den Gruppen bestand darin, wann und wodurch die Erkrankung ausgelöst wurde: Bei den ME/CFS-Betroffenen lag der Erkrankungsbeginn vor der Pandemie, meist infolge anderer Infektionen. Bei der Long-COVID-Gruppe war SARS-CoV‑2 der bekannte Auslöser. Die Erkrankungsdauer war in vielen Fällen kürzer.

Damit handelt es sich bei den als „Long COVID“ bezeichneten Teilnehmenden streng genommen um ME/CFS-Betroffene mit einem klar identifizierbaren Trigger. Rob Wüst bezeichnete sie im Vortrag als Betroffene in einem „frühen Stadium“ von ME/CFS – eine Formulierung, die die klinische und pathophysiologische Kontinuität zwischen beiden Gruppen betont [Wüst, Int. Conference 2025].

 

Die Unterscheidung in der Bezeichnung ist somit vor allem historisch und epidemiologisch begründet, nicht pathophysiologisch. Für die wissenschaftliche Bewertung der vorliegenden Befunde ist entscheidend: Beide Gruppen litten unter PEM, beide erfüllten die CCC und beide zeigten vergleichbare Veränderungen im Muskelgewebe [Appelman et al., 2024].

3. Studiendesign: Das Zwei-Tages-Biopsieprotokoll

Um die biologischen Veränderungen im Zusammenhang mit Post-Exertional Malaise (PEM) systematisch zu erfassen, entwickelte das Forschungsteam um Rob Wüst ein innovatives Zwei-Tages-Biopsieprotokoll. Es kombiniert leistungsdiagnostische Belastungstests mit gezielten Muskelgewebeentnahmen und ermöglicht so eine Vorher-nachher-Analyse der körperlichen Reaktion auf Anstrengung [Wüst, Int. Conference 2025].

 

Die teilnehmenden Betroffenen wurden zunächst zu einer ersten Muskelbiopsie eingeladen. Diese diente als Ausgangspunkt (Baseline) und wurde aus dem M. vastus lateralis (Oberschenkel) entnommen. Etwa eine Woche später führten die Teilnehmenden einen kardiopulmonalen Belastungstest (CPET) durch, der gezielt auf eine maximale, aber medizinisch kontrollierte Ausbelastung abzielte. Dieses Protokoll ist bekannt dafür, PEM zuverlässig auszulösen, allerdings unter ethisch vertretbaren Bedingungen. Am Tag nach dem Belastungstest wurde eine zweite Biopsie aus demselben Muskel entnommen, um die durch Anstrengung ausgelösten Veränderungen direkt erfassen zu können.

 

Begleitend erfolgten umfangreiche physiologische Messungen: Herzfrequenz, Spiroergometrie, Nahinfrarot-Spektroskopie (NIRS), Aktivitäts- und Erholungsdaten über Wearables sowie Blutproben. Ziel war es, die systemische Reaktion auf Anstrengung ebenso zu erfassen wie die lokalen Prozesse im Muskelgewebe [Ruijgt et al., 2024].

 

Dieses Studiendesign ist bislang einzigartig. Es erlaubt nicht nur die direkte Beobachtung belastungsinduzierter Veränderungen, sondern auch deren Zuordnung zur klinisch berichteten PEM-Episode. Alle Betroffenen in der Long-COVID- und ME/CFS-Kohorte entwickelten nach der Belastung eine klar definierte PEM, die Kontrollpersonen hingegen nicht. Damit lassen sich die im Muskel gemessenen Effekte eindeutig dem Krankheitsmechanismus zuordnen [Appelman et al., 2024].

4. Muskelveränderungen nach Belastung: Hinweise auf spezifische Pathophysiologie bei PEM

Die Muskelproben zeigten bei den Betroffenen mit PEM eine Reihe von Veränderungen, die sich nicht durch körperliche Inaktivität oder Dekonditionierung erklären lassen. Im Gegenteil: Die beobachteten Phänomene deuten auf eigenständige pathologische Prozesse hin, die durch körperliche Belastung aktiviert oder verstärkt werden. Rob Wüst betonte, dass sich die Reaktion der Muskulatur bei Long COVID und ME/CFS deutlich von der gesunder Personen unterscheidet, und zwar nicht nur in der Leistungsfähigkeit, sondern im Gewebe selbst [Wüst, Int. Conference 2025; Appelman et al., 2024].


4.1 Mitochondriale Dysfunktion

Bereits in der Ausgangssituation zeigten sich bei den Betroffenen Auffälligkeiten in der mitochondrialen Funktion. Die Mitochondrien, also die „Kraftwerke der Zelle“, wiesen eine reduzierte Atmungskapazität auf. Nach Belastung verschlechterte sich diese Funktion noch weiter, insbesondere in den oxidativen Stoffwechselwegen. Dabei traten keine groben strukturellen Defekte auf, sondern funktionelle Störungen, die auf eine energetische Fehlanpassung hindeuten [Charlton et al., 2024].


Diese Befunde legen nahe, dass die Muskeln von ME/CFS- und Long-COVID-Betroffenen nicht in der Lage sind, auf erhöhte Energieanforderungen adäquat zu reagieren. Es kommt zu einem Rückgriff auf ineffizientere Stoffwechselwege, möglicherweise vergleichbar mit dem sogenannten Warburg-Effekt, der aus der Tumorforschung bekannt ist. Auch wenn dieser Vergleich laut Wüst mit Vorsicht zu verwenden ist, zeigt sich eine Tendenz zur vermehrten anaeroben Energiegewinnung [Appelman et al., 2024].


Wichtig ist: Diese mitochondriale Reaktion unterscheidet sich klar von dem, was man bei gesunden, aber untrainierten Personen nach Anstrengung beobachtet. Es handelt sich nicht um eine verzögerte Anpassung, sondern um eine dysfunktionale Antwort auf Belastung.


4.2 Struktur- und Fasertypveränderungen

Neben den funktionellen Störungen auf mitochondrialer Ebene zeigten sich auch strukturelle Veränderungen in der Muskelfaserzusammensetzung. Bei den untersuchten Betroffenen war eine Verschiebung zugunsten glycolytischer, also anaerob arbeitender, Fasertypen erkennbar. Im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen fanden sich vermehrt schnell kontrahierende Typ-II-Fasern, während die oxidativ arbeitenden, ausdauernden Typ-I-Fasern teilweise verkleinert oder in geringerer Dichte vorhanden waren [Appelman et al., 2024].


Diese Umverteilung kann bedeuten, dass die Muskulatur weniger auf langanhaltende Belastung vorbereitet ist und schneller ermüdet. Die betroffenen Muskeln greifen früher auf Zuckerverbrennung unter Sauerstoffmangel zurück, ein ineffizienter Stoffwechselweg, der zu schnellerer Ansäuerung und Muskelermüdung führen kann.


Bemerkenswert ist dabei: Solche Veränderungen treten nicht in gleicher Form bei gesunden, inaktiven Personen auf. In kontrollierten Bettruhe-Studien mit gesunden Probanden zeigte sich keine vergleichbare Fasertypverschiebung wie bei ME/CFS- oder Long-COVID-Betroffenen. Auch eine deutliche Muskelatrophie, wie sie bei längerer Inaktivität üblich ist, war in der PEM-Kohorte nicht ausgeprägt [Wüst et al., 2024a].


Diese Ergebnisse sprechen klar gegen die These, dass es sich bei den muskulären Veränderungen lediglich um Folgen von Schonverhalten oder Dekonditionierung handelt. Stattdessen deuten sie auf krankheitsspezifische Prozesse hin, die unabhängig vom Aktivitätsniveau entstehen oder sogar durch minimale Belastung verschärft werden.


4.3 Mikrovaskuläre Auffälligkeiten

Eine weitere zentrale Beobachtung betraf die kleinsten Blutgefäße im Muskelgewebe: die Kapillaren. In der Biopsieanalyse zeigte sich bei den Betroffenen eine veränderte Kapillararchitektur, insbesondere in Form einer reduzierten Kapillare-zu-Muskelfaser-Ratio. Während bei gesunden Kontrollpersonen nach körperlicher Inaktivität (zum Beispiel Bettruhe) meist eine relative Zunahme der Kapillardichte beobachtet wird, bedingt durch den Abbau von Muskelmasse bei gleichbleibender Kapillarzahl, war bei ME/CFS- und Long-COVID-Betroffenen eine tatsächliche Reduktion der Kapillarisierung zu erkennen [Appelman et al., 2024].


Besonders auffällig war die Struktur der Basalmembranen der Kapillaren. Dabei handelt es sich um eine stützende Schicht, die das Endothel umgibt und für die Stabilität sowie die Filterfunktion der Gefäßwand verantwortlich ist. Bei den Betroffenen war diese Membran verdickt, was auf eine pathologische Veränderung hindeutet. Rob Wüst bezeichnete dies im Vortrag als potenziellen diagnostischen Marker, da sich die Proben von Betroffenen hier besonders deutlich von denen gesunder Kontrollen unterschieden [Wüst, Int. Conference 2025].


In elektronenmikroskopischen Aufnahmen zeigten sich zudem vergrößerte und irregulär geformte Kapillaren mit auffälligen Endothelzellen. Diese wiesen teils eine starke Vesikelbildung auf. Dies sind Hinweise auf eine möglicherweise gestörte oder überaktive Ausschüttungsfunktion in der Mikrozirkulation. Die genaue Bedeutung dieser Strukturen ist noch unklar, doch sie deuten auf eine Beteiligung des Gefäßsystems an der Pathophysiologie von PEM hin [Charlton et al., 2024].


Die beschriebenen Veränderungen könnten erklären, warum die Muskeln der Betroffenen bereits bei geringer Belastung mit Symptomen reagieren, die einem Sauerstoffmangel ähneln, selbst dann, wenn global betrachtet keine Hypoxie vorliegt. Es handelt sich um eine mikrovaskuläre Störung mit potenziell spürbaren Folgen auf Gewebeebene.


4.4 Amyloidartige Strukturen, Lipofuszin und Immunzellen

Neben den metabolischen und vaskulären Auffälligkeiten beobachtete das Forschungsteam von Rob Wüst auch Hinweise auf entzündliche und degenerative Prozesse im Muskelgewebe der Betroffenen, insbesondere nach Belastung.


Auffällig war das vermehrte Auftreten von T-Zell-Infiltraten und Makrophagen, also Zellen des Immunsystems, die sich typischerweise bei Gewebeschädigung oder chronischer Entzündung im betroffenen Areal ansammeln. Diese Immunzellen fanden sich nicht in den Kontrollbiopsien, wohl aber regelmäßig nach Anstrengung in den Proben der PEM-Betroffenen. Dies spricht für eine belastungsinduzierte Aktivierung immunologischer Prozesse im Muskel, möglicherweise im Sinne einer fehlgeleiteten oder unkontrolliert ablaufenden Entzündungsantwort [Appelman et al., 2024].


Zusätzlich identifizierte das Team amyloidartige Strukturen im Gewebe. Dabei handelt es sich um eiweißbasierte Ablagerungen, deren genaue Zusammensetzung noch nicht vollständig geklärt ist. Sie erinnern strukturell an Amyloidfibrillen, wie sie aus neurodegenerativen Erkrankungen bekannt sind. Ob sie bei ME/CFS eine vergleichbare Funktion oder lediglich eine Reaktion auf chronischen Zellstress darstellen, ist bislang unklar. Ihr wiederholtes Auftreten nach Belastung legt jedoch eine bedeutende Rolle im Krankheitsprozess nahe [Charlton et al., 2024].


Ein weiterer Befund war die Akkumulation von Lipofuszin, einem Abfallprodukt des Zellstoffwechsels, das sich typischerweise bei gestörter Autophagie, also dem zellulären Reinigungsprozess, in Zellen ansammelt. Lipofuszin trat bei den ME/CFS-Betroffenen nicht nur vermehrt, sondern auch in deutlich höherer Konzentration pro Muskelfaser auf als bei den Long-COVID-Betroffenen. In den Kontrollproben war es nahezu nicht nachweisbar [Charlton et al., 2024].


Die Forscher vermuten hier einen Zusammenhang mit defekter Autophagie und möglicherweise autoimmunen Prozessen. Erste Hinweise auf Autoantikörper gegen Autophagie-assoziierte Proteine liegen vor, müssen jedoch noch weiter untersucht werden. Die Lipofuszin-Akkumulation wird daher als potenzieller biologischer Marker für chronische Muskelbeteiligung bei ME/CFS diskutiert [Ruijgt et al., 2024].


Diese histologischen Befunde untermauern, dass es sich bei PEM nicht um eine rein funktionelle oder subjektive Störung handelt, sondern um nachweisbare, biologische Prozesse, die direkt im Gewebe sichtbar gemacht werden können.

5. Abgrenzung zur Dekonditionierung: Warum Inaktivität die Befunde nicht erklärt

Ein häufiges Gegenargument gegen biomedizinische Erklärungen für die bei ME/CFS beobachteten Belastungsreaktionen ist die Annahme, die Symptome und Befunde ließen sich durch Dekonditionierung erklären, also durch körperliche Inaktivität infolge von Schonverhalten. Rob Wüst und sein Team gingen diesem Argument systematisch nach und verglichen ihre Ergebnisse mit Daten aus kontrollierten Bettruhe-Studien, die in Kooperation mit der ESA, NASA und dem DLR durchgeführt wurden [Wüst et al., 2024a].


Dabei zeigte sich: Zwar kam es bei gesunden Probanden nach längerer Bettruhe, wie erwartet, zu einer Abnahme der maximalen Sauerstoffaufnahme (VO₂max) und muskulärer Leistungsfähigkeit. Doch die morphologischen und funktionellen Veränderungen im Muskelgewebe unterschieden sich fundamental von denen der ME/CFS- und Long-COVID-Kohorten.


Ein zentrales Beispiel ist die Kapillardichte: Nach längerer Inaktivität schrumpft die Muskelmasse, bei gleichbleibender Anzahl an Kapillaren steigt somit die relative Kapillardichte. Bei den ME/CFS-Betroffenen hingegen blieb die Muskelmasse erhalten, gleichzeitig war die Kapillarisierung reduziert, ein Befund, der mit Dekonditionierung nicht vereinbar ist [Appelman et al., 2024].


Auch der Umbau der Muskelfasern verlief unterschiedlich: Während sich in der Bettruhegruppe ein typisches, mildes Muskelatrophie-Muster zeigte, beobachtete das Wüst-Team in der PEM-Kohorte eine krankheitsspezifische Fasertypverschiebung, kombiniert mit mitochondrialer Dysfunktion, immunologischer Aktivierung und Lipofuszin-Ablagerung. Allesamt nicht dokumentierte Merkmale von Inaktivität allein.


Diese kontrollierten Vergleichsdaten sind entscheidend: Sie entkräften die Dekonditionierungsthese nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch, mit Daten aus parallelen, methodisch vergleichbaren Studien. Die Muskelveränderungen bei ME/CFS und „Long COVID mit PEM“ sind demnach nicht Folge von Inaktivität, sondern Ausdruck einer eigenständigen pathophysiologischen Dynamik, die über die reine Belastungsintoleranz hinausgeht und die vielschichtige Symptomatik von PEM widerspiegelt.

6. Klinische Implikationen: Diagnostik und Rehabilitationsgrenzen

Die vorgestellten Ergebnisse von Rob Wüst haben nicht nur wissenschaftliche, sondern auch direkte klinische Relevanz. Sie betreffen insbesondere die Diagnostik von ME/CFS und „Long COVID mit PEM“ sowie den Umgang mit körperlicher Aktivierung und Rehabilitation.

 

Ein zentrales Problem in der bisherigen klinischen Praxis besteht darin, dass PEM nicht zuverlässig objektiviert wird, obwohl es das definierende Merkmal der Erkrankung ist. Der derzeit gängige 2-Tage-CPET-Test, bei dem Betroffene an zwei aufeinanderfolgenden Tagen bis zur Ausbelastung trainieren, ist zwar wissenschaftlich aussagekräftig, aber aus ethischer Sicht problematisch. Er induziert absichtlich PEM, oft in schwerer Form, und lässt die Betroffenen mit den Folgen allein. Wüst bezeichnete diese Praxis im Vortrag ausdrücklich als „unethisch“ [Wüst, Int. Conference 2025].

 

Als Alternative empfiehlt er validierte Selbsterhebungsinstrumente wie den DSQ-PEM-Fragebogen. Dieser ist zwar noch nicht in der Lage, alle Erscheinungsformen und zeitlichen Verläufe von PEM abzubilden, bietet aber eine nichtinvasive und ethisch vertretbare Möglichkeit, PEM zu erfassen. Dies gilt insbesondere für den klinischen Alltag und für Studienzwecke [Wüst, Int. Conference 2025].

 

Darüber hinaus könnten einige der im Muskelgewebe identifizierten Veränderungen, etwa die Verdickung der Kapillar-Basalmembran oder die Lipofuszin-Akkumulation, künftig als biologische Marker dienen, um PEM objektivierbar zu machen. Hierzu sind jedoch größere Validierungskohorten erforderlich [Charlton et al., 2024].

 

Im Kontext der Rehabilitation ergibt sich eine klare Schlussfolgerung: Belastungssteigerung nach klassischen Reha-Modellen ist bei Vorliegen von PEM kontraindiziert. Jegliche Form von Aktivierung, die das individuelle Belastungslimit überschreitet, kann die pathologischen Prozesse weiter verstärken. Das Forschungsteam um Wüst sieht in diesen Ergebnissen eine eindringliche Bestätigung des Konzepts von Pacing, also der bewussten Begrenzung von Belastung, um PEM zu vermeiden [Appelman et al., 2024].

 

Diese Befunde unterstreichen die Notwendigkeit, PEM nicht nur symptomatisch zu erfassen, sondern als pathophysiologisch realen Prozess zu erkennen. Die Auswirkungen betreffen muskuläre, vaskuläre und immunologische Systeme.

7. Fazit und zentrale Erkenntnisse

Die Studienergebnisse von Rob Wüst und seinem Team liefern überzeugende Hinweise darauf, dass Post-Exertional Malaise (PEM) mit konkreten, messbaren biologischen Veränderungen im Muskelgewebe verbunden ist. Diese betreffen den Energiestoffwechsel, die Mikrozirkulation, die Struktur der Kapillaren und die Immunantwort. Die Veränderungen treten spezifisch nach Belastung auf [Appelman et al., 2024; Charlton et al., 2024].


Die untersuchten Befunde unterscheiden sich in Art und Ausmaß deutlich von dem, was man bei gesunden, aber inaktiven Menschen beobachtet. Sie lassen sich nicht durch Dekonditionierung erklären. Vielmehr sprechen sie für eine eigenständige pathophysiologische Reaktion, die körperliche Aktivität bei Betroffenen mit ME/CFS oder „Long COVID mit PEM“ regelhaft verschärft. In der Folge kann es zu den typischen Zustandsverschlechterungen kommen.


Mit dem Zwei-Tages-Biopsieprotokoll steht erstmals ein Studiendesign zur Verfügung, das direkte organische Veränderungen im Muskel vor und nach Belastung sichtbar macht. Es ermöglicht ein besseres Verständnis von PEM und könnte, bei entsprechender Weiterentwicklung, zur Identifikation diagnostischer Biomarker beitragen [Wüst, Int. Conference 2025].


Wüst betonte in seinem Vortrag, dass es dringend an der Zeit sei, PEM nicht länger als subjektives Phänomen oder Begleitsymptom zu behandeln. Vielmehr müsse es als zentraler pathologischer Prozess anerkannt werden, der das Verständnis und die Versorgung von ME/CFS und Long COVID grundlegend prägt.

8. Einordnung und Bedeutung im Kontext von Forschung und Versorgung

Die Arbeiten von Rob Wüst leisten einen zentralen Beitrag zur biomedizinischen Fundierung von PEM und damit zum besseren Verständnis von ME/CFS, unabhängig vom Auslöser. Sie reihen sich ein in eine wachsende Zahl von Studien, die zeigen: Diese postakuten Infektionssyndrome (PAIS) beruhen nicht auf fehlender Motivation, psychischer Überforderung oder Antriebslosigkeit, sondern auf nachweisbaren Störungen auf zellulärer, vaskulärer und immunologischer Ebene [Charlton et al., 2024; Ruijgt et al., 2024].

 

Besonders relevant ist die Nähe zur klinischen Anwendung. Die vorgestellten Befunde liefern Ansatzpunkte für die Entwicklung objektivierbarer Biomarker, stärken das Konzept des Pacing und entkräften narrative Erklärungsmodelle wie Dekonditionierung oder psychosomatische Belastungsreaktionen [Wüst et al., 2024a].

 

Gleichzeitig zeigen sie, wie viel noch ungeklärt ist. Die genaue Entstehung von PEM, die Rolle der Amyloid- und Lipofuszinstrukturen, die Verbindung zu Autoimmunität und gestörter Autophagie sind Gegenstand aktueller und zukünftiger Forschung. Die Validierung der Gewebemarker in größeren Kohorten steht ebenso aus wie ihre Integration in klinische Diagnosekriterien.

 

Rob Wüst rief in seinem Vortrag dazu auf, das neu gewonnene Wissen international zu vernetzen und gemeinsam weiterzuentwickeln. Seine Forschung macht deutlich: Es geht bei ME/CFS und Long COVID nicht nur darum, eine unsichtbare Erkrankung sichtbar zu machen, sondern auch darum, wissenschaftliche Erkenntnisse in konkrete Versorgung umzusetzen.


9. Referenzen

  1. Wüst, R. C. I. (2025). Vortrag: Skeletal muscle alterations in PCS and ME/CFS. Präsentiert auf der International ME/CFS Conference, 12. Mai 2025, Berlin.
  2. Ruijgt, T., Slaghekke, A., Ellens, A., Janssen, K. W., & Wüst, R. C. I. (2025). Wearable heart rate variability monitoring identifies autonomic dysfunction and thresholds for post-exertional malaise in Long COVID. medRxiv. https://doi.org/10.1101/2025.03.18.25320115
  3. Appelman, B., Charlton, B.T., Goulding, R.P., Kerkhoff, T.J., Breedveld, E.A., Noort, W., Offringa, C., Bloemers, F.W., van Weeghel, M., Schomakers, B.V., Coelho, P., Posthuma, J.J., Aronica, E., Wiersinga, W.J., van Vugt, M., & Wüst, R.C.I. (2024). Muscle abnormalities worsen after post-exertional malaise in long COVID. Nature Communications, 15, 17. https://doi.org/10.1038/s41467-023-44432-3
  4. Charlton, B.T., Goulding, R.P., Manders, R.J.F., Appelman, B., van Vugt, M., & Wüst, R.C.I. (2024). Skeletal muscle adaptations and post-exertional malaise in long COVID. Trends in Endocrinology & Metabolism, 35(12), 100298. https://doi.org/10.1016/j.tem.2024.11.008

Sekundärquellen / Blogs