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Antikörper im Fokus: Vom ‚Faktor X‘ im Blut zum Schlüsselfaktor IgG bei ME/CFS und Post-COVID


Kurzzusammenfassung

Seit Jahren berichten Studien, dass im Blut von ME/CFS- und Post-COVID-Betroffenen etwas vorhanden ist, das gesunde Zellen verändert. Doch der Auslöser blieb unklar. Eine neue Arbeit von Bhupesh Prusty et al. liefert nun erstmals eine präzise Antwort: 


IgG-Antikörper, die aus Patientenblut isoliert wurden, reichen allein aus, um in Endothelzellen mitochondriale Fragmentierung und Funktionsänderungen auszulösen.

 

Die Forschenden zeigen, dass diese Antikörper in Endothelzellen eindringen können. Endothelzellen kleiden die Gefäße aus und regulieren die Durchblutung sowie die Gefäßweite. Dort führen die Antikörper zu einer Fragmentierung der Mitochondrien. Mitochondrien sind nicht nur Kraftwerke der Zellen, sie steuern auch Abwehrmechanismen gegen Viren und regulieren den Zellstoffwechsel. Werden sie fragmentiert, verlieren sie ihre Netzwerkstruktur und die Energieproduktion bricht ein. Es zeigte sich ein Trend zu stärkeren Effekten bei Proben von weiblichen Betroffenen.

 

Zusätzlich verursachen die IgG-Moleküle eine veränderte Ausschüttung von Zytokinen, also Botenstoffen des Immunsystems, die Entzündungen verstärken können. Proteom-Analysen zeigen, dass die Antikörper bei ME/CFS vor allem mit der extrazellulären Matrix (ECM) interagieren, einem Protein-Gerüst, das Gewebe zusammenhält. Besonders Fibronectin, ein Schlüsselprotein für Gefäßstabilität, war betroffen. Bei Post-COVID mit ME/CFS-Symptomen dominieren dagegen Veränderungen der Blutgerinnung.

 

Damit schließt sich eine Lücke in der Forschung: Frühere Studien zeigten zwar, dass Patientenplasma schädigend wirkt, etwa auf Muskelzellen, Gefäßfunktionen oder im Nanoneedle-Test, doch der konkrete Faktor war unbekannt. Nun ist klar, dass IgG-Antikörper ein entscheidender Bestandteil sind.

 

Diese Erkenntnis eröffnet neue therapeutische Perspektiven. Denkbar sind Plasmapherese, IgG-Adsorption oder Medikamente, die gezielt den Fc-Signalweg hemmen. Auch die Stabilisierung der ECM könnte in Zukunft eine Rolle spielen.

 

Die Arbeit ist ein Preprint (nicht peer-reviewed), liefert aber eine wertvolle Grundlage: Vom Faktor X im Blut hin zu einem greifbaren Ziel für Diagnostik und Therapie.



1. Ziel und Zusammenfassung

Hinweis: Die Ergebnisse stammen zum Zeitpunkt der Erstellung des #MillionsMissing Deutschland-Artikels aus einem Preprint auf medRxiv (Prusty et al., 2025). Das bedeutet, dass die Daten noch nicht peer-reviewed sind und daher als vorläufig betrachtet werden müssen.

 

Die neue Arbeit von Bhupesh Prusty und Team zeigt erstmals, dass Antikörper vom Typ Immunglobulin G (IgG), die allein aus Patientenblut isoliert werden, ausreichen, um in gesunden Zellen mitochondriale Veränderungen auszulösen. Mitochondrien sind dabei nicht nur die Kraftwerke der Zellen, die Energie in Form von ATP bereitstellen, sondern auch zentrale Steuerstellen für den Zellstoffwechsel, die Stressreaktion und die antivirale Abwehr.

 

Sie entscheiden unter anderem darüber, ob eine Zelle Viren erkennen und abwehren kann oder ob Abwehrmechanismen abgeschaltet werden. Wird die Struktur oder Funktion der Mitochondrien gestört, betrifft dies daher nicht nur die Energiebereitstellung, sondern auch die Fähigkeit des Körpers, Infektionen zu kontrollieren und Entzündungen im Gleichgewicht zu halten.

 

Diese Fokussierung auf Antikörper als ursächlichen Faktor macht die Studie besonders wertvoll. Frühere Arbeiten konnten zeigen, dass „etwas im Blut“ die Funktion gesunder Zellen verändert. Unklar blieb jedoch, ob es sich um Zytokine, Stoffwechselprodukte oder virale Partikel handelt. Nun liegt erstmals eine klare Identifizierung vor: Es sind Immunglobuline, die sowohl auf das Gefäßsystem als auch auf die mitochondriale Netzstruktur wirken. Damit fügt die Studie ein entscheidendes Puzzleteil in den lang gesuchten Krankheitsmechanismus von ME/CFS und Post-COVID ein. (Prusty et al., medRxiv 2025).

 

Besonders bedeutsam ist dieser Befund auch deshalb, weil er zeitlich genau zu anderen großen Fortschritten in der ME/CFS-Forschung passt. Die DecodeME-Studie hat erstmals genetische Risikofaktoren beschrieben, die das Immunsystem und die Nervensignalgebung betreffen. Ein Team der Cornell University um De Vlaminck und Hanson konnte 2025 im Blut zirkulierende RNA-Marker identifizieren.

 

Diese Marker weisen auf typische Muster von Entzündung und einem gestörten Energiestoffwechsel hin. Was dort auf der Ebene von Genetik und Blutmarkern sichtbar wurde, erhält nun durch die IgG-Studie eine funktionelle Erklärung: Sie zeigt, wie diese genetischen Risiken und molekularen Veränderungen tatsächlich in den Zellen wirksam werden, indem Antikörper Mitochondrien schädigen und dadurch die Energieproduktion wie auch die antivirale Abwehr beeinträchtigen. (Prusty et al., medRxiv 2025).


2. Blut als Träger von Krankheitsfaktoren

Viele Untersuchungen der letzten Jahre zeigten, dass sich durch Patientenblut übertragbare Faktoren finden lassen. Blut besteht aus festen Bestandteilen wie roten Blutkörperchen, die Sauerstoff transportieren, weißen Blutkörperchen, die für die Immunabwehr zuständig sind, und Blutplättchen, die die Gerinnung steuern. Der flüssige Anteil heißt Plasma. Plasma ist eine gelbliche Flüssigkeit, die Wasser, Nährstoffe, Eiweiße, Hormone und Abwehrstoffe enthält und damit so etwas wie die „Transportschicht“ des Blutes bildet.

 

Wenn man gesundes Blut oder isolierte Zellen in Kontakt mit Patientenplasma bringt, verändern sich deren Eigenschaften messbar. Genau auf diesem Prinzip basiert eine Reihe von Experimenten, die in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erregten. Besonders bekannt wurde der sogenannte Nanoneedle-Assay. Dabei werden Immunzellen auf einem Chip elektrisch stimuliert und man misst, wie sich ihre Leitfähigkeit unter Stressbedingungen verändert. Trägt man Plasma von ME/CFS-Betroffenen auf, so zeigen gesunde Zellen einen auffälligen Stress- und Energiemangel-Effekt. Wird dagegen Patientenplasma durch gesundes Plasma ersetzt, bessern sich die Werte. Damit konnte erstmals robust nachgewiesen werden, dass etwas im Blut von Betroffenen die Zellfunktion direkt beeinflusst. (Esfandyarpour et al., PNAS 2019).


3. Was bisher fehlte

Es blieb lange unklar, welche Stoffe im Blut den Effekt tatsächlich auslösen. Diskutiert wurden vor allem Zytokine, das sind kleine Botenstoffe des Immunsystems, die Entzündungen steuern und regulieren. Ein Überschuss oder Ungleichgewicht an Zytokinen kann Zellen in einen dauerhaften Alarmzustand versetzen.


Auch Exosomen standen im Verdacht. Exosomen sind winzige Bläschen, die Zellen abgeben, um Informationen oder Moleküle weiterzugeben. Sie können Proteine, RNA und sogar kleine DNA-Fragmente enthalten und so wie „Nachrichtenkapseln“ im Blut wirken.

 

Darüber hinaus wurden Virusreste diskutiert, also Überbleibsel von Infektionen, die im Körper verbleiben können und das Immunsystem dauerhaft reizen. Einige Studien deuteten auf die Reaktivierung von Herpesviren hin, andere auf persistierende Fragmente von SARS-CoV-2 nach einer Infektion.

 

Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt waren Autoantikörper, also fehlgeleitete Abwehrstoffe, die sich gegen körpereigene Strukturen richten. Bei ME/CFS fanden verschiedene Gruppen Antikörper gegen Rezeptoren des Nervensystems, zum Beispiel gegen β2-Adrenozeptoren oder muskarinische Acetylcholinrezeptoren. Solche Autoantikörper könnten Signalwege stören, die Blutgefäße, Herzfrequenz und Energiehaushalt regulieren.

 

Es gab auch Hinweise auf mitochondriale Störungen. Mitochondrien reagieren empfindlich auf Stresssignale aus dem Blut und können dadurch ihre Funktion als Energielieferanten und Schaltzentralen der Abwehr verlieren. Doch ob dies primär durch Zytokine, Exosomen, Virusreste, Autoantikörper oder andere Faktoren ausgelöst wird, blieb lange unklar. (Syed et al., 2025 Review).


4. Die neue IgG-Studie im Detail

Die aktuelle Arbeit reinigt IgG-Antikörper aus dem Serum, also aus dem flüssigen Anteil des Blutes, der übrig bleibt, wenn Zellen und Gerinnungsfaktoren entfernt werden. Antikörper sind Abwehrproteine, die normalerweise Krankheitserreger wie Bakterien oder Viren markieren. In diesem Fall wurden die IgG-Moleküle isoliert und gesunden Zellen zugesetzt. Verwendet wurden vor allem humane Endothelzellen, das sind die Zellen, die die Innenseite der Blutgefäße auskleiden und entscheidend für Gefäßweite, Durchlässigkeit und Blutflussregulation sind. Damit wird erstmals nicht nur gezeigt, dass „etwas im Blut“ wirksam ist, sondern dass es sich eindeutig um IgG handelt – eine klare Eingrenzung des ursächlichen Faktors. (Prusty et al., medRxiv 2025).

 

4.1 Eintritt der Antikörper in Zellen

Die Forscher zeigen, dass IgG in Endothelzellen aufgenommen wird. Der Eintritt erfolgt vermutlich über sogenannte Fc-Rezeptoren, Eiweißmoleküle auf der Zelloberfläche, die normalerweise den Fc-Teil des Antikörpers binden, um Immunreaktionen einzuleiten. Bemerkenswert ist, dass nicht nur vollständige Antikörper, sondern auch Fragmente in die Zellen gelangen. Fab-Fragmente sind die Abschnitte des Antikörpers, die Krankheitserreger erkennen, während Fc-Fragmente die Kontaktstelle zu Rezeptoren und Abwehrzellen darstellen. Beide Teile können in Zellen eindringen, entfalten aber unterschiedliche Effekte. Dieser Mechanismus deutet darauf hin, dass Antikörper in ME/CFS und Post-COVID nicht nur von außen wirken, sondern auch direkt in das Innenleben der Zellen eingreifen. (Prusty et al., medRxiv 2025).

 

4.2 Fragmentierung der Mitochondrien

Die Zugabe von Patienten-IgG führt dazu, dass Mitochondrien auseinanderbrechen und ihre Netzwerkstruktur verlieren. Normalerweise bilden Mitochondrien ein dynamisches Geflecht, das sich ständig teilt und wieder verschmilzt, ähnlich einem Stromnetz, das Energie flexibel verteilt. Zerfällt dieses Netz, spricht man von Fragmentierung. Dies ist ein typisches Zeichen für Zellstress oder beginnende Schädigung.

 

Neben dieser strukturellen Veränderung zeigen auch Funktionsmessungen Auffälligkeiten. Die maximale Atmungskapazität der Mitochondrien verschiebt sich. Manche Zellen versuchen dadurch offenbar, Stress zu kompensieren, indem sie ihre Leistung hochfahren. Interessanterweise verschwanden die Unterschiede zwischen Patienten- und Kontroll-IgG, wenn die Zellen gezwungen waren, fast ausschließlich mitochondriale Energiegewinnung zu nutzen. Das bedeutet jedoch nicht Entwarnung, sondern weist auf ein anderes Problem hin.

 

Zellen verlieren ihre metabolische Flexibilität. Gesunde Zellen können normalerweise je nach Situation zwischen zwei Energiequellen umschalten: der schnellen, aber ineffizienten Glykolyse und der langsameren, aber effizienten mitochondrialen Atmung (OXPHOS). Genau diese Anpassungsfähigkeit wird durch Patienten-IgG gestört. Die Folge ist eine Art metabolische Starrheit. In Ruhe kann die Funktion manchmal unauffällig wirken, doch unter wechselnden Belastungen bricht sie zusammen. Dieses Muster passt zu den typischen Beschwerden von ME/CFS und Post-COVID, bei denen Betroffene oft erst unter Belastung dekompensieren.

 

Besonders stark war der Effekt in den Experimenten bei Proben von weiblichen Betroffenen ausgeprägt. Dies weist auf geschlechtsspezifische Unterschiede oder Subgruppen hin. (Prusty et al., medRxiv 2025).

 

4.3 Unterschiedliche Wirkungen von Fab und Fc

Ein zentrales Ergebnis ist die unterschiedliche Wirkung der Antikörperfragmente. Das Fab-Fragment löste ähnliche mitochondriale Fragmentierung und funktionelle Störungen aus wie das vollständige IgG. Das Fc-Fragment hingegen führte zu einem hypometabolen Zustand. Dabei sank die maximale Atmungskapazität der Mitochondrien, die Zellen produzierten weniger ATP und schalteten auf ein Energiesparprogramm um. Dieser Zustand ist kritisch, weil er die Anpassungsfähigkeit der Zellen an Belastung verringert und typische Symptome wie Energielimitierung begünstigen könnte. Der Unterschied eröffnet neue therapeutische Ansatzpunkte: Blockiert man gezielt die Interaktion des Fc-Teils, ließe sich möglicherweise verhindern, dass Antikörper den Energiestoffwechsel absenken, ohne ihre Schutzfunktion gegen Infektionen vollständig zu verlieren. (Prusty et al., medRxiv 2025).

 

4.4 Zytokinreaktionen

Auch die Immunzellen selbst reagierten auffällig. Gesunde PBMCs (periphere mononukleäre Blutzellen, dazu gehören T-Zellen, B-Zellen und Monozyten) schütteten nach Kontakt mit Patienten-IgG verstärkt Zytokine aus, also Botenstoffe, die Entzündungen antreiben. Besonders IL-1β, IL-6 und IFN-γ nahmen zu, wobei die Muster zwischen ME/CFS- und Post-COVID-Proben unterschiedlich waren. Diese Zytokine sind bekannte Verstärker von Fieber- und Krankheitsgefühlen und können bei chronischer Aktivierung zu Fatigue, Schmerz und Immunfehlsteuerung beitragen. Damit legen die Daten nahe, dass Antikörper nicht nur Mitochondrien schädigen, sondern auch das Immunsystem in einen Zustand ständiger Alarmbereitschaft versetzen. (Prusty et al., medRxiv 2025).

 

4.5 Immunkomplex-Proteomik

Schließlich analysierte das Team die Immunkomplexe, also die Kombinationen aus Antikörpern und den Proteinen, an die sie gebunden waren. Dabei zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen ME/CFS und Post-COVID. Bei ME/CFS fand sich eine Signatur der extrazellulären Matrix (ECM), das ist das stabile Gerüst aus Proteinen, das Zellen und Gewebe stützt. Besonders Fibronectin, ein zentrales Strukturprotein, war betroffen. Störungen der ECM könnten die Kommunikation zwischen Zellen und ihre Versorgung mit Nährstoffen beeinträchtigen. Bei Post-COVID zeigten sich verstärkt Veränderungen in der Blutgerinnung, unter anderem durch Bindung an Fibrin und Hinweise auf Thrombozytenaktivierung.

 

Diese Unterschiede verdeutlichen, dass ähnliche Symptome aus unterschiedlichen molekularen Mustern entstehen können und sie könnten erklären, warum nicht jeder Patient gleich auf bestimmte Therapien anspricht. (Prusty et al., medRxiv 2025).


5. Warum diese Ergebnisse so wertvoll sind

Die Studie benennt erstmals den konkreten Träger des schädigenden Effekts: IgG-Antikörper. Damit wird ein unscharfes Konzept „irgendetwas im Blut verursacht die Störungen“ durch eine präzise Identifizierung ersetzt. Dieser Schritt ist vergleichbar mit dem Moment, in dem in anderen Erkrankungen der entscheidende Biomarker gefunden wurde, der Forschung und Therapie neu ausrichtete.

 

Die Arbeit zeigt nicht nur, dass Antikörper in gesunde Zellen eindringen können, sondern auch, dass sie dort direkt die Struktur der Mitochondrien und die Energiebilanz verändern. Da Mitochondrien neben der Energieproduktion auch für die antivirale Abwehr und die Steuerung von Entzündungssignalen entscheidend sind, bedeutet ihre Schädigung einen doppelten Angriff: Zellen verlieren nicht nur Kraft, sondern auch Widerstandsfähigkeit gegen Infekte und Stress. Besonders wertvoll ist, dass diese Effekte mit typischen klinischen Befunden von ME/CFS und Post-COVID in Verbindung gebracht werden können.

 

Viele Betroffene leiden an Gefäßdysfunktion, die sich durch Kreislaufdysfunktion, Minderdurchblutung und instabile Blutdruckregulation äußert. Ein zentrales Symptom ist die orthostatische Intoleranz, das Unvermögen, längeres Stehen oder aufrechtes Sitzen ohne Beschwerden zu ertragen. Genau hier passen die Endothel-Befunde der Studie: Antikörper, die Gefäßzellen schädigen und Mitochondrien in diesen Zellen schwächen, liefern einen plausiblen Mechanismus für diese oft schwer erklärbaren Symptome.

 

Damit hebt sich die Arbeit deutlich von allen bisherigen „etwas im Blut“-Studien ab. Wo frühere Ansätze die Existenz eines übertragbaren Faktors andeuteten, liefert Prustys Team jetzt den konkreten molekularen Schlüssel. Das macht diese Ergebnisse nicht nur zu einem Forschungsdurchbruch, sondern auch zu einem möglichen Ausgangspunkt für diagnostische Tests und gezielte Therapien. (Prusty et al., medRxiv 2025).


6. Vergleich zu früheren Serum-Transfer-Studien

Die neue Arbeit baut auf einer ganzen Reihe von Experimenten auf, die schon länger nahelegten, dass Faktoren im Blut von ME/CFS-Betroffenen direkt die Zellfunktion beeinflussen. Im Unterschied dazu konnte nun aber der konkrete Träger IgG-Antikörper benannt werden.

 

6.1 Nanoneedle und Plasmaaustausch

Beim bekannten Nanoneedle-Experiment normalisierten sich ME/CFS-Zellen in gesundem Plasma und umgekehrt: Gesunde Zellen zeigten unter Patientenplasma typische Stressreaktionen. Plasma ist der flüssige Anteil des Blutes ohne Zellen und Gerinnungsfaktoren, in dem Proteine, Antikörper und Signalstoffe gelöst sind. Damit war klar, dass der Effekt übertragbar ist, doch der Auslöser blieb unbestimmt. (Esfandyarpour et al., PNAS 2019).

 

6.2 NO-Hemmung im Endothel

Eine andere Studie nutzte Endothelzellen, also die Zellen, die Blutgefäße von innen auskleiden. Dort führte Plasma von ME/CFS-Betroffenen zu einer verminderten Bildung von Stickstoffmonoxid (NO). NO wirkt gefäßerweiternd und ist entscheidend für die Durchblutung. Wird es gehemmt, können Gefäße verengt bleiben, was zu schlechterer Sauerstoffversorgung und Kreislaufstörungen führt. Diese Beobachtung passt direkt zu den klinischen Beschwerden vieler Betroffener, ließ aber offen, welcher Faktor im Plasma NO bremst. (Bertinat et al., 2022).

 

6.3 Muskelzellmodelle

Auch Muskelzellen reagierten auffällig. In einer Studie von Fluge et al. 2017 führte Patientenserum zu einer reduzierten Aktivität des Pyruvat-Dehydrogenase-Komplexes, einem Schlüsselenzym der Energiegewinnung, welches den Zuckerstoffwechsel mit den Mitochondrien verbindet. Ohne diesen Schritt läuft der Energiestoffwechsel nur gedrosselt. Neuere 3D-Muskelmodelle bestätigten den Befund: Nach Kontakt mit Patientenserum verloren Muskelgewebe ihre metabolische Flexibilität, also die Fähigkeit, zwischen Zucker- und Fettverbrennung zu wechseln. Genau diese Anpassungsfähigkeit ist für Ausdauerleistung und Regeneration wichtig. (Fluge et al., 2017; Mughal et al., 2024).

 

6.4 Serumfaktor und Virusreaktivierung

Frühere Arbeiten von Prusty und Naviaux hatten zudem gezeigt, dass Patientenserum Mitochondrien fragmentiert und latente Herpesviren reaktivieren kann. Latent bedeutet, dass Viren wie HHV-6 oder EBV im Körper „schlummern“ und bei Stress wieder aktiv werden. Der zugrundeliegende Mechanismus war jedoch unklar: man wusste, dass es geschieht, aber nicht wodurch. Nun liefert die neue Studie mit IgG den entscheidenden Schlüssel. Antikörper sind nicht nur Begleiterscheinung, sondern direkter Auslöser der mitochondrialen Fragmentierung und damit auch potenzieller Trigger für Virusreaktivierungen. (Schreiner et al., 2020).

 

6.5 Zellfreie RNA-Signaturen im Plasma

Eine unabhängige Arbeit der Cornell-Gruppe identifizierte spezifische Muster zellfreier RNA (cfRNA) im Blutplasma von ME/CFS-Betroffenen. Diese Transkripte spiegeln Prozesse wie Immunaktivierung, Störungen der extrazellulären Matrix und T-Zell-Erschöpfung wider. Das Besondere ist, dass diese Veränderungen nicht nur die Präsenz eines unbekannten Faktors andeuten, sondern konkrete molekulare Spuren hinterlassen, die als Biomarker dienen könnten. Damit ergänzt die Cornell-Studie die neuen IgG-Daten: Während Prusty et al. den Träger der Schädigung definieren, zeigen Gardella et al., wie sich dieser Effekt im Blutbild niederschlägt. (Gardella et al., PNAS 2025).


7. ECM und Fibronectin als Schnittstellen

Die extrazelluläre Matrix (ECM) ist das Gerüst, das Zellen und Gewebe zusammenhält. Sie besteht aus Proteinen und Zuckermolekülen, die nicht nur Stabilität verleihen, sondern auch wie eine Art Informationsnetz wirken. Die ECM reguliert, wie durchlässig Gefäße sind, wie Zellen miteinander kommunizieren und wie sie auf mechanische Belastungen reagieren.

 

Ein zentrales Protein der ECM ist Fibronectin. Es wirkt wie ein biologischer „Klebstoff“, der Zellen aneinander und an ihre Umgebung bindet. Gleichzeitig spielt es eine Schlüsselrolle für die Gefäßintegrität, also dafür, dass Blutgefäße stabil und dennoch flexibel bleiben. Wird Fibronectin verändert oder gestört, können Gefäße durchlässig werden. Dadurch kommt es zu Leckagen, bei denen Flüssigkeit oder Immunzellen unkontrolliert ins Gewebe übertreten. Ebenso können mechanische Signale, zum Beispiel Dehnung der Gefäßwand bei Blutdruckschwankungen, falsch weitergeleitet werden.

 

Genau solche Muster lassen sich bei ME/CFS beobachten: Betroffene berichten häufig über Kreislaufinstabilität, Schwindel und eine besondere Form der orthostatischen Belastungsintoleranz, die als PoTS (Posturales Tachykardie-Syndrom) bekannt ist. Dabei steigt die Herzfrequenz beim Aufrichten stark an, weil die Blutgefäße nicht angemessen regulieren. Die neuen Daten zeigen, dass IgG-Antikörper über ihre Bindung an Fibronectin und andere ECM-Komponenten direkt solche Fehlfunktionen begünstigen könnten.

 

Damit liefert die Arbeit von Prusty et al. eine biologische Grundlage für Symptome, die bisher oft schwer erklärbar waren und eher funktionell gedeutet wurden. Nun wird deutlich: Die zugrunde liegende Störung betrifft das Gefäßgewebe selbst und entsteht aus einer Kombination von Antikörperwirkung, ECM-Veränderung und mitochondrialem Stress. (Prusty et al., medRxiv 2025).


8. Klinische Bedeutung und Ausblick

Die Identifizierung von IgG-Antikörpern als Träger des schädigenden Effekts eröffnet erstmals gezielte therapeutische Perspektiven. Bisher waren Behandlungsansätze oft unspezifisch und basierten auf dem Versuch, Symptome zu lindern. Nun lassen sich Strategien ableiten, die direkt an der Ursache ansetzen könnten.


Ein naheliegender Ansatz ist die IgG-Adsorption, ein Verfahren, bei dem Antikörper selektiv aus dem Blut herausgefiltert werden. Vergleichbar ist auch die Plasmapherese, bei der Plasma ausgetauscht oder gereinigt wird. Solche Methoden werden bereits bei Autoimmunerkrankungen wie Myasthenia gravis erprobt und könnten auch bei ME/CFS und Post-COVID wirksam sein, sofern klinische Studien dies bestätigen.


Darüber hinaus bieten die Ergebnisse neue Angriffspunkte für Medikamente, die spezifisch den Fc-vermittelten Signalweg blockieren. Das Fc-Fragment ist der Teil des Antikörpers, der mit Rezeptoren auf Zellen interagiert und entzündliche Reaktionen auslöst. Wird dieser Signalweg gezielt gedämpft, könnten die schädigenden Effekte von Patienten-IgG reduziert werden, ohne das gesamte Immunsystem zu unterdrücken.

Ein weiterer wichtiger therapeutischer Ansatz ergibt sich aus den Befunden zur extrazellulären Matrix (ECM) und zum Endothel. Medikamente, die die ECM stabilisieren oder die Funktion der Endothelzellen verbessern, könnten dazu beitragen, Gefäßlecks, Kreislaufinstabilität und chronische Entzündungen abzumildern.


Gleichzeitig ist klar: Diese Ansätze sind derzeit hypothetisch. Sie müssen in klinischen Studien sorgfältig überprüft werden, bevor sie den Betroffenen zugutekommen können. Die aktuelle Studie liefert die wissenschaftliche Grundlage, ersetzt aber nicht die notwendige klinische Prüfung. (Prusty et al., medRxiv 2025).


9. Fazit

Die neue Studie ist deshalb so wertvoll, weil sie eine lange gesuchte Kette schließt: Von den frühen Beobachtungen, dass Patientenblut gesunde Zellen krank macht, bis hin zur eindeutigen Identifizierung des verantwortlichen Moleküls: der IgG-Antikörper.


Damit wird nicht nur ein wissenschaftliches Rätsel gelöst, sondern auch ein Fundament für die klinische Praxis gelegt. Zum ersten Mal lässt sich der Zusammenhang zwischen Antikörpern, Mitochondrienstörung, Gefäßdysfunktion und Symptomen wie Kreislaufinstabilität oder PoTS schlüssig erklären.


Besonders wertvoll ist, dass die Ergebnisse zwei bisher getrennte Forschungsstränge verbinden: einerseits die Hinweise auf Autoimmunität und andererseits die Befunde zu gestörter Energieproduktion und Gefäßstabilität. Antikörper und ECM werden so zum neuen Dreh- und Angelpunkt für Forschung und Therapie. (Prusty et al., medRxiv 2025).


10. Quellennachweis

Primärliteratur

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  3. Esfandyarpour R, Kashi A, Nemat-Gorgani M, Wilhelmy J, Davis RW. A nanoelectronics-blood-based diagnostic biomarker for myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome (ME/CFS). Proc Natl Acad Sci U S A. 2019;116(21):10250-10257. doi:10.1073/pnas.1901274116. Link
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Sekundärliteratur

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